In Berlin gibt es viele fahrende Musikanten. Sie betreten die U-Bahn immer knapp vor der Abfahrt, klimpern ein Lied, nehmen eine müde Mark in Empfang und hinterlassen eine Stimmung vager Hoffnungslosigkeit. Für Christoph Schlingensief sind diese Sänger "Bomben, die darauf verzichten, sich selbst zu zünden", und damit ein weiteres Symptom für den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Depression, den man in allen wichtigen Denkschulen des neuen Deutschland verstehen möchte. Die erste Folge von U-3000, dem neuen, in einer Berliner U-Bahn gedrehten Talk-Projekt von Schlingensief, endet denn auch mit einer Prophezeiung: "In zehn Jahren wird sich dieses gesellschaftliche System selbst zerstört haben." Danach explodiert das Show- Logo in einer typischen MTV- Grafik - es ist eine elegante Bewegung der Zeichen, und sie wirkt frivol nach Schlingensiefs frenetischem Menschenfischzug für diese Talk- Show, die wie alle seine Aktionen weit in seine persönliche Geschichte zurückreicht. Die Prophezeiung über den Untergang dieser Gesellschaft hat er, so Schlingensief im Gespräch mit dem Standard, seinerseits von Joseph Beuys gehört, bei einer Veranstaltung des "Lion’s Club" an der Seite seines Vaters. "Ich war damals noch ein kleiner Junge, und wir saßen da und hörten uns eine Rede von Beuys an, und am Ende sagte er: ,Diese Gesellschaft ist in sieben Jahren komplett zerstört.‘ Da haben sie alle gebellt! Das gibt’s doch nicht, und so weiter. Aber ich habe bemerkt, dass sich mein Vater jedes Jahr im Kalender das Datum dieser Rede eingetragen hat, und nach sieben Jahren war Beuys widerlegt." Mit U-3000 wird er wieder ins Recht gesetzt, denn das Ende der Gesellschaft ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern als prophetische Rede, und man sieht Schlingensief an, wie sehr ihn der wiedergefundene Kampfruf "Halleluja" aus einem Zustand der "Abstraktion" herausführt, in den er über die letzten Jahre hinweg gekommen war. Der Erfolg seiner Theaterunternehmen, sein wachsender Ruhm als Störenfried, seine genial improvisierten Operationen an den Nervenenden der Mediengesellschaft hätten ihn sich selbst entfremdet, erzählt er. Erst eine Afrika-Reise, die Container-Aktion in Wien sowie eine neue Beziehung brachten ihn wieder auf die Geleise, und plötzlich war die U-3000 abfahrbereit. Ausgerechnet auf MTV, wo noch jede Verausgabung in eine Pose verwandelt wurde. Aber Schlingensief bewirkt tatsächlich das Wunder der Rückverwandlung (die religiösen Bilder legt er alle selbst nahe). Seine "Entäußerung" endet siegreich, zumindest in der ersten Folge. Er geht integer aus dieser Show hervor, auch wenn er manchmal seine Position herausbrüllen muss: "Das will ich nicht. Halleluja!" Er will keine Proll- Show, auch wenn er etwa mit der schwer kranken Frau Abels und ihrem schmächtigen Mann Menschen eingeladen hat, die im Fernsehen immer nur vorgeführt werden können, und mit den Jodlerinnen Maria und Margot Hellwig zwei Glockenstimmen, die immer noch einen paraten Satz zu viel auf Lager haben: "Aber wir haben doch ein Sozialsystem." Logik der Überbietung Das System ist zu langsam für Frau Abels, während die U- 3000 mit 55 Stundenkilometern fährt. Schlingensief weiß, dass seine Talkshow nur durch eine Logik der Überbietung funktionieren kann. "Ich bin Ihr ganz persönliches Arschloch!" Als Moderator muss er "durch die Hölle gehen", und seine Gäste mit. Auf eine großartige Weise kehrt Schlingensief so auch wieder zu seinen filmischen Low- Budget-Anfängen zurück. Bei MTV wird schnell geschnitten, also musste Schlingensief körperlich dagegenhalten. "Wir haben mit jeder neue Folge neue Tricks ausprobiert, wie ich mich markieren konnte, um nicht anschlussfähig zu werden. Ich habe mich sukzessive bemalt, damit man mich nicht schneiden konnte, ohne einen seltsamen Sprung zu haben." Mit dem Ergebnis der ersten Folge kann er trotzdem gut leben, es ist auch keineswegs Formatfernsehen. Gegen Ende gibt es ein schönes Experiment, wenn die Zuseher in Königswusterhausen aufgefordert werden, den Fernseher auszuschalten und so den Stromverbrauch signifikant zu senken, was U-3000 sich als eine negative Quote wieder auf die Fahnen heften könnte. Für die nächsten Folgen darf man ein schönes Bild erwarten: Schlingensief als der neue Siegfried, dessen Drachenhaut eine verwundbare Stelle aufweist, weil er beim Vollbad eine Aktie auf dem Rücken trug. Das ist eine Messiasrolle nach seinem Geschmack, und Schlingensief hat gute Zeugen. Er hält Marcuses Buch Konterrevolution und Revolte in die Kamera und ruft: "Das ist in der edition suhrkamp erschienen, da gibt’s jetzt auch ein Buch von mir!": Schlingensief’s Ausländer raus, herausgegeben von Matthias Lilienthal und Standard-Kulturressortleiter Claus Philipp, wird er übrigens am 13. 12. im Wiener Schauspielhaus präsentieren. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 11. 2000)