"Seattle war ein Weckruf", meint Moore im Gespräch mit Standard- Mitarbeiter Daniel Birchmeier in Genf, dem Sitz der Welthandelsorganisation WTO. Standard: Herr Moore, ein Jahr nach dem Desaster von Seattle scheint es, als würden heute dieselben Diskussionen geführt wie damals. Die EU verlangt eine neue Handelsrunde, mit denselben Themen wie damals. Moore: Seattle war eine Wasserscheide, ein Weckruf. Dabei ging es nicht nur um die WTO. Ähnliche Debatten fanden auch (am Weltwirtschaftsforum) in Davos statt und anderswo. Was die EU betrifft: Es ist nicht an mir, die Verhandlungspositionen anderer Leute zu kommentieren, aber ich sehe Flexibilität durchschimmern. Dabei geht es nicht nur um die großen Themen. Ein Beispiel ist die Umsetzung der bisherigen Abkommen. In Seattle führte diese Frage noch zu einer Blockierung, weil die Delegationen das zur Seite schieben und einfach in eine neue Handelsrunde einbringen wollten. Es wird sicher nicht eines schönen Morgens einen enormen Durchbruch geben - das ist nicht die Art, wie dieses Haus funktioniert. Aber ja, es gab Veränderungen, es gibt etwas Flexibilität bei den wichtigsten Teilnehmern, sodass ich mich heute wesentlich besser fühle als vor einem Jahr. Standard: Nach Seattle wurden auch Forderungen nach mehr Transparenz und Effizienz erhoben. Was ist in diese Richtung geschehen? Moore: Viel ist passiert. Wir haben in den letzten drei Monaten gegen hundert Stunden allein für die Umsetzung der Abkommen aufgewendet, mit zum Teil informellen, sehr offenen Treffen. Dies ist die WTO: 100 Stunden für einen einzigen Bereich! Partizipation ist denn auch ein Schlüsselwort für mich. Dazu dienen auch die "Genfer Wochen", in denen wir (Vertreter aus ärmeren Ländern ohne ständige Vertretung in Genf) ausbilden und Transparenz schaffen. Kürzlich fand (in Gabun) die erste afrikanischen Handelsministerkonferenz statt mit einer Vielzahl von Workshops - auch das ist Partizipation, die zu Transparenz führt. Standard: EU-Handelskommissar Pascal Lamy möchte lieber eher mehr als weniger in die neue Handelsrunde stopfen, so die Frage der genetisch modifizierten Nahrungsmittel. Andere wollen ganz klein anfangen. Wie soll so eine neue Handelsrunde zustande kommen? Moore: Ich will (die Verhandlungen) so breit angehen wie möglich. Doch nur unter Einschluss eines Maximums an Mitgliedsländern wird es ein maximales Ergebnis geben. Der Konsens ist wichtig. Standard: Das System der Konsensfindung ist sehr träge. Braucht die WTO nicht ein System der Mehrheitsentscheidung? Moore: Es stimmt schon. Jedes Mal, wenn wir mehr Mitglieder bekommen, wird die Sache noch komplizierter. Dennoch glaube ich nicht, dass (Mehrheitsentscheidungen) angebracht wären. Vielleicht in zehn Jahren - doch heute wäre das zu gefährlich. Wenn wir Mehrheitsentscheidungen hätten, würden die kleineren Länder und die Entwicklungsländer marginalisiert. Standard: Der neue US-Präsident steht noch nicht fest, und 2002 sind in Deutschland und Frankreich bereits wieder Wahlen. Dazu kommt der Wechsel an der WTO-Spitze. Und Sie haben noch immer keine Agenda. Moore: Es ist ein kleines Fenster. Aber ein guter Einbrecher kommt auch durch ein solches Fenster hinein. Selbstverständlich brauchen wir Flexibilität. Es wird keine Agenda geben, in der jedes Land alles hineinstopfen kann. Standard: Wieso ist es so wichtig, möglichst rasch eine neue Runde zu starten? Moore: Neue Verhandlungen schaffen den Antrieb für die Regierungen, zu Hause Reformen anzupacken und damit mehr Jobs zu schaffen. Standard: Eine andere Bedrohung für die WTO könnte die Entwicklung der Dispute sein. Es gibt nicht nur eine Häufung von Streitfällen, auch die Sanktionsforderungen werden immer gigantischer. Moore: Der Druck hat sich erhöht. Die Kosten, der zeitliche Aufwand, die Haltung der Länder führen dazu, dass man sich wünschte, dass die Fälle sonst wo geregelt werden. Aber dafür sind wir ja da. Wegen dieser Dispute von Handelskriegen zu sprechen, halte ich für falsch. Angebrachter wäre die Bezeichnung "Friedenskonferenz in Handelsfragen" - schließlich sind die Regierungen heute im Gegensatz zu früher bereit, internationale Schlichtungssprüche zu akzeptieren. Die Alternative wäre, die Dinge bilateral zu lösen. Das wäre vor allem für die Kleinen schlecht. (DER STANDARD, Printausgabe 29.11.2000)