Die Lebenslüge gehört zu den Lieblingsbegriffen des politisch-moralischen Diskurses. Staaten oder Nationen, aber auch politischen Gruppierungen, denen ein leichtfertiger Umgang mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit nachgesagt wird, wird vorgeworfen, sich nur allzu schnell in "Lebenslügen" verstrickt zu haben, die einem Verschweigen, ja Leugnen der eigenen Untaten gleichkämen.
Politische Aufklärung versteht sich deshalb zunehmend als Kampf gegen diese Lebenslügen, als Aufforderung, der Wahrheit der eigenen Vergangenheit ins Auge zu sehen. Von der bequemen Auffassung der ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht, dass diese im Großen und Ganzen keine verbrecherische Organisation gewesen war, bis zum Mythos von Österreich als erstem Opfer Hitlers reichen die "Lebenslügen", die durch konsequente Aufklärung, durch Ausstellungen, Unterrichtsprojekte und öffentliche Debatten aufgedeckt werden sollten. Was bei solch aufklärerischer Verve allerdings verloren geht, ist die vertrackte Ausweglosigkeit, zu deren Kennzeichnung der Begriff der Lebenslüge einmal eingeführt worden war.
Wahrheitsliebe . . .
Seinen ursprünglichen Ort hat dieser Begriff in Henrik Ibsens Stück Die Wildente aus dem Jahre 1884. Im Grunde etablierte Ibsen durch diesen Text zwei Formen der Lebenslüge, die beide im politischen Diskurs der Gegenwart ihre Entsprechungen finden.
Da ist einmal die verdrängte und vergessene Vergangenheit - bei Ibsen der sexuelle Fehltritt einer jungen Frau - und zum anderen die Flucht in eine illusionäre Welt - bei Ibsen der imaginierte Wald eines senilen Jägers. Und es fehlt auch nicht der radikale Aufklärer, der die anderen in einem "Morast von Lügen" verstrickt sieht und alles daransetzt, diesen Morast auszutrocknen. Das Ende ist bekannt: Eine Familie wird dadurch vernichtet. Wohl hat die Wahrheit triumphiert - aber mit dieser kann dann keiner mehr leben.
Womöglich hat Ibsens Szenerie für heutige Leser wenig unmittelbare Überzeugungskraft. Die Logik dieser Lügen des Verschweigens und die als Moral maskierten Interessen sind aber unabhängig von den konkreten Anlassfällen gültig. Am Beispiel der auch jüngst wieder heftig debattierten "österreichischen Lebenslüge" lässt sich dies trefflich demonstrieren. Zur Rede gestellt, warum man jahrzehntelang verschwiegen habe, dass man nicht Opfer, sondern Mittäter des NS-Terrorregimes gewesen war, antwortete die etablierte österreichische Nachkriegsgeneration wie Ibsens sündiges Weib, die ihrem Mann eine voreheliche Affäre verschwiegen hatte: Man habe Wichtigeres zu tun gehabt (den Wiederaufbau), ohne diese Lüge hätte man nie bekommen, was man bekommen wollte (die Eigenstaatlichkeit), und überhaupt, was wäre aus dem Land geworden, hätte man nicht rasch vergessen.
Und wie der eifersüchtige Ehemann bei Ibsen reagieren die kritischen Nachgeborenen entsetzt auf solches Verschweigen: Habt ihr euch nie kritisch mit euerer Vergangenheit auseinander gesetzt? Und wie bei Ibsen verbergen sich hinter diesem Entsetzen nicht nur der Wille zur Wahrheit, sondern auch eigene Interessen: Man hat eine treffliche Erklärung, warum man so borniert ist, wie man ist, und man beteuert, dass alles besser - weltoffener, liberaler, kultivierter, demokratischer - wäre, hätte man nur einmal diese Lüge abgelegt. Die am anderen diagnostizierte Lebenslüge bestätigt so die eigene moralische Dignität und erlaubt es manchmal sogar, damit die eigenen dunklen Flecken zu übertünchen.
Die forciert vorgetragene Notwendigkeit, die Lebenslügen anderer zu zerstören, kann so allmählich die Gestalt einer eigenen Lebenslüge annehmen. Es gehört seit langem zur Dialektik der Aufklärung, dass sich die Aufklärer nur ungern über sich selbst aufklären wollen.
Allerdings: Bei Ibsen gibt es auch einen Arzt, der die These vertritt, dass die Lebenslüge als "Wunderdroge" manchmal den Menschen geradezu verschrieben werden muss.
Seine Zivilisationsskepsis ist paradigmatisch: Gerade weil er die Wahrheit über die Wahrheit weiß, weiß er auch, dass diese Wahrheit nicht jedem zugemutet werden kann. Die Lebenslüge ist ein lebensnotwendiges Therapeutikum. Nur die Starken ertragen die Wahrheit über sich selbst; die Schwachen brauchen den Trost der Lebenslüge. Nimmt man ihnen diesen, zerbrechen sie.
Es gehört zu den unfreiwilligen Pointen gegenwärtiger Debatten um die "Lebenslüge", dass dieser Begriff in der Regel gegen die Intentionen, die Ibsen damit verband, verwendet wird. Wer heute von Lebenslüge spricht, tut dies ganz in der Pose des schneidigen Aufklärers. In ihrem Moralismus verkennen die Kritiker der Lebenslüge deren Lebensdienlichkeit, die das Problem ja tatsächlich verschärft. Sofern es sich wirklich um Lebenslügen handelt, besagt dieser Begriff ja, dass ohne diese Selbsttäuschungen die Lösung anstehender Probleme nicht oder nicht in dem erfolgten Maße gelungen wären.
. . . um jeden Preis?
Der Stachel der österreichischen Lebenslüge vom ersten Opfer Hitlers besteht ja darin, dass ohne diese Lüge jene Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik nicht hätte geschrieben werden können, die es der dritten Generation dieser Republik nun erlaubt, zur heroischen Kritik derselben auszuholen. Zur Erinnerung: Es waren die Außenminister der Alliierten gewesen, die aus nicht ganz uneigennützigen Interessen am 1. November 1943 in der "Moskauer Deklaration" Österreich konzediert hatten, das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein und, damit verbunden, die Wiedergewinnung der Eigenstaatlichkeit in Aussicht gestellt hatten, vor-ausgesetzt, die Österreicher würden einen Beitrag zu ihrer Befreiung vom NS-Regime leisten. Aufgrund dieser Erklärung bekam Österreich durch den Staatsvertrag mit den Alliierten 1955 seine volle Souveränität zurück, was dem Land eine weitere Besetzung durch alliierte Truppen ebenso ersparte wie eine mögliche Teilung im Zuge des Kalten Krieges.
Fragwürdige Strategie
Die Zweite Republik betrachtete damit offenbar aber auch die Frage nach der Mitschuld von Österreichern an nationalsozialistischen Verbrechen für erledigt, und darin lag und liegt das Problem. Völkerrechtlich gesehen war Österreich tatsächlich das erste Opfer gewesen - wäre sich Hitler sicher gewesen, dass sich die Mehrheit der Österreicher in der von Schuschnigg anberaumten Abstimmung zum Deutschen Reich bekennen würden, hätte er nicht diese Abstimmung durch den Einmarsch verhindert. Was durch die ständige Beteuerung dieses Sachverhalts verdeckt werden sollte, war die Tatsache, dass sehr viele Österreicher den Anschluss durchaus gewollt hatten, dass noch mehr nach dem Anschluss begeisterte Nazis wurden, und es nicht zuletzt die Schuld des bornierten austrofaschistischen Regimes gewesen war, dass einer breiten Koalition gegen den Nationalsozialismus keine Chance gegeben wurde.
Fraglich, ob solchen vertrackten Verhältnissen mit moralischen Kategorien wie "Geschichts-" oder "Lebenslüge" beizukommen ist, fraglich, ob der Begriff der Lebenslüge überhaupt tauglich ist, um kollektive Bewusstseinsprozesse zu beschreiben.
Die vorwurfsvoll vorgetragene politische Rede von der "Lebenslüge" einer Nation sollte jedenfalls zur Vorsicht mahnen: Es könnte sich dabei um eine Strategie handeln, der es weder um die Wahrheit oder deren Bewertung, sondern schlicht darum geht, den politischen Gegner ins moralische Abseits zu manövrieren.
Konrad Paul Liessmann lehrt Philosophie an der Universität Wien; mehr über die Lüge findet sich in seinem im Herbst bei Zsolnay erschienenen Buch "Philosophie des verbotenen Wissens"; eine ungekürzte Fassung dieses Textes publiziert das "Posthof-Magazin" in seinem Dezemberheft.