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Foto: Reuters/Bensch
Wien - Jacques Chirac stochert im Nebel. Am Dienstag in Wien, am Mittwoch in Madrid, am Donnerstag in Lissabon und Dublin. "Wir haben festgestellt, dass es Punkte gibt, wo wir nicht übereinstimmen. Aber das ist in diesem Stadium der Verhandlungen normal." Diesen Satz sagte der französische Staatspräsident am Dienstagabend nach seinem Gespräch mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in Wien. Er könnte das Motto der gesamten "Tour der Hauptstädte" des französischen Präsidenten sein. Chirac sondiert im Rahmen von Frankreichs EU-Präsidentschaft die Verhandlungspositionen der 14 anderen Staats- und Regierungschefs, knapp eine Woche vor dem Gipfel in Nizza. Vom österreichischen Bundeskanzler hörte Chirac auf der siebten Station seiner Tour in Wien ungefähr das gleiche wie am Mittag auf seiner sechsten in Stockholm vom schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson: Beide Regierungschefs bestehen auf einem EU-Kommissar pro Land. Die Position der kleinen Länder steht damit im Gegensatz zur französischen und auch deutschen Haltung. Die Franzosen wollen angesichts der bevorstehenden EU-Erweiterung unbedingt die Zahl der Kommissare begrenzen, denn, so Chirac in Wien, "eine Kommission mit zu vielen Mitgliedern wäre gelähmt". Damit aber jeder einmal an die Reihe kommt, sollen die Kommissarsposten "rotieren", so die französische Lösung, mit der auch der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder leben könnte. Nationale Vorbehalte Ein noch viel bunteres Bukett an nationalen Vorbehalten sammelt Chirac auf seiner Europatour zum Thema "Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen" ein. So besteht Österreich auf Einstimmigkeit im Ministerrat in Bereichen wie Wasserwirtschaft oder Verkehr, Deutschland bei der Asylpolitik, Spanien bei den Strukturfonds, Großbritannien bei den Steuern - um nur einige Beispiele zu nennen. Selbst wenn Premierminister Tony Blair laut Mittwochsausgabe der Financial Times Flexibilität bei den Mehrheitsentscheidungen signalisiert hat: Wie weit es wirklich damit her ist, wird Chirac erst am heutigen Donnerstag im nordostenglischen Sedgefield herausfinden. Bisher galt jedenfalls für alle EU-Länder: Nur ja nicht zu früh zu viele Verhandlungspositionen aufgeben. Entscheidet sich doch traditionsgemäß bei EU-Reformgipfeln alles Strittige erst in der "Nacht der langen Messer". Mit besonderer Spannung wird dennoch Chiracs vierzehnte Tourstation erwartet: Am Samstag trifft er Schröder in Hannover. Viel war in den letzten Wochen von Spannungen im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich im Hinblick auf den Nizza-Gipfel die Rede. Auch die "Harmonieerklärung" der Außenminister Joschka Fischer und Hubert Védrine am Rande des EU-Balkan-Treffens in Zagreb Ende vergangener Woche hat Skeptiker nicht davon überzeugt, dass der "deutsch-französische Integrationsmotor" wieder ohne Stottern liefe. Denn uneins sind die beiden Länder nach wie vor über die neue Stimmenverteilung im Rat. Bisher haben Frankreich und Deutschland dort gleich viele Stimmen. Berlin möchte aber die Tatsache, dass es 20 Millionen mehr Deutsche als Franzosen gibt, auch bei Abstimmungen berücksichtigt sehen. (jwo) (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 30.11.2000)