Es gibt Menschen, die in der Fußgängerzone "Arschloch" brüllen, die Grimassen schneiden, die kopfwackeln. Sie finden sich dabei nicht lustig. Sie leiden am unheilbaren Tourette- Syndrom. Ihre unkontrollierbaren Tics können sie nur mit Psychopharmaka einigermaßen lindern.

Die Krankheit fühlt sich so an: "Es war aus dem Nichts aufgetaucht, mein verzweifelter Drang, ganz hinten in meiner Kehle hohe Geräusche zu produzieren. Das waren keine Wörter, sondern Laute, die ein Bedürfnis befriedigten, welches mir noch nie zuvor aufgefallen war. (...) ,Iiiiiii – ammmmm – aaaah – aah – miiiiiii.‘ Ich war der Wirt dieses Geheuls, aber unfähig, es zu kontrollieren." (Die Mackenplage, in: David Sedaris, Nackt)

Fälle

Alle wollen reden. Alle wollen von ihrem Fall erzählen. Der Herr Urbanek, der plötzlich schreien muss. Eva S., die blinzelt und "bip" sagt. Die hüstelnde Studentin. Frau Schmidt, die sich verkrampft und selbst mit der Faust ins Gesicht schlägt. Öffentlichkeit ist ihnen wichtig. Möglichst viele sollen von ihrer Krankheit erfahren. Vielleicht müssen sie dann nicht mehr so oft erklären, dass sie am Tourette-Syndrom leiden.

Dunkelbraunes Furnier, abgewetzte Holzstühle, irgendeine verdiente sozialdemokratische Großtante schaut von der Wand – nur wenige Mitglieder sind zur Weihnachtsfeier der Österreichischen Tourette Gesellschaft nach Wien-Leopoldstadt gekommen. "Viele fürchten, dass sie sich neue Tics angewöhnen, wenn sie mit anderen Betroffenen zusammenkommen", erklärt Birgit Urbanek, die Obfrau der Gesellschaft. (Frau S. sagt "bip".)

Immerhin hat sich Franz Riederer eingefunden. Der junge Arzt soll über neueste Forschungen zum Tourette- Syndrom (TS) berichten. Viel Neues kann er über den "Schluckauf im Gehirn" jedoch nicht erzählen (siehe Wissen). Es wird kaum geforscht. Die Krankheit ist für Pharmafirmen nicht attraktiv, "nur" fünf von 10.000 Personen sind betroffen. (Franziska Schmidt zieht eine Grimasse.) Öffentliche Gelder für die selbst bei vielen Ärzten unbekannte Krankheit gibt es kaum.

Bei manchen TS-Patienten hat es Jahre gedauert, bis die richtige Diagnose erstellt war. "Meine Eltern haben mich für eine Simulantin gehalten", erzählt Eva S. Und die Studentin (sie will anonym bleiben) hat vier Psychotherapien hinter sich: "Die Erziehung war an meinem Schulterzucken schuld, die Familie, alles Mögliche." (Michael Urbanek brüllt.) Dann endlich sei man auf TS gekommen. "Endlich konnte ich sagen, was ich habe. Was hätte ich denn ohne Diagnose sagen sollen? ,Ich bin deppert‘ vielleicht?"

Niedergeschlagen

Viele brauchten das gar nicht selber zu sagen. Das besorgten schon die anderen. Eva S. wurde in der Wiener Postdirektion in die Pension gemobbt. Küchengehilfin Schmidt fand keinen Job mehr: Frühpension. (Die Studentin hustet. Ihr momentaner Tic ist "gesellschaftsfähig", findet sie.) Und für Herrn Urbanek war es anfangs beim Stadtgartenamt auch schwierig. Inzwischen haben die Kollegen zwar Verständnis, dafür wurde er auf offener Straße niedergeschlagen, zweimal festgenommen, Hunde wurden auf ihn gehetzt.

Seine Koprolalie hat Urbanek inzwischen mithilfe von Medikamenten im Griff. Er muss nicht mehr wie andere mitten in der Fußgängerzone "Ficken" oder "Dumme Sau" oder "Heil Hitler" brüllen. (Eva S. blinzelt.) Jetzt ist er nur noch heiser von seiner kehligen, unartikulierten Schreierei. Und müde, weil er die Psychopharmaka einnehmen muss. Franziska Schmidt schlägt sich ins Gesicht. "Ich will keine Medikamente", wehrt sie ab. Einen Grund mag sie nicht nennen.

"Man muss stark sein"

"Nein, es nervt nicht", sagt Birgit Urbanek geduldig. Aber man müsse "schon stark sein", wenn man mit einem TS-Patienten verheiratet ist. "Wir sind in vielem eingeschränkt: Theater, Kino, unbekannte Restaurants spielt’s nicht." Selbst U-Bahn-Fahren sei unmöglich, weil ihr Mann unter Menschen immer am stärksten ticke. Manchmal wünschte man sich einfach nur mehr Verständnis.

Viel schwerer wiege, so Frau Urbanek, was die Ärzte Komorbidität nennen: Depressionen, Panikattacken, Zwangsstörungen, unter denen TS-Patienten leiden. Damit sei nicht leicht fertig zu werden. "Aber Reden in der Gruppe hilft", sagt sie. Und zu sehen, dass man mit TS nicht allein ist: "Manchmal sagt mein Mann auf der Straße zu mir: ,Schau, da ist auch einer.‘ Tourette-Patienten können sich riechen, glaube ich."

Infos: Österreichische Tourette Gesellschaft, (01) 946 47 16, Spenden: PSK 920 747 76 (DER STANDARD, Print.-Ausgabe, 28.12.2000)