Gegen Ende des Jahres 2000 rückten die drei für Österreich wesentlichen Spielarten plebiszitärer Demokratie in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen. Dabei ging es um höchst unterschiedliche Materien: um eine Volksbefragung zum geplanten Musiktheater in Linz, um ein Volksbegehren, das den Austritt aus der Europäischen Union zum Inhalt hatte, und schließlich um den von führenden Repräsentanten der SPÖ unterbreiteten Vorschlag, eine Volksabstimmung über die Budgetbegleitgesetze abzuhalten.

In dieser kumulativen Suche nach Volksnähe manifestierte sich die Fortsetzung eines Trends, der schon seit den 90er-Jahren zu beobachten ist. Bis weit in die 80er-Jahre dagegen war es genau umgekehrt: Vor allem auf Grund der "Gründungsgeschichte" der 2. Republik, die als Elitenkonsens der beiden 1934 aufeinadrgeprallten "Lager" zu lesen ist, auf Grund der traditionell starken Ausprägung des Parteien- und Verbändestaates sowie der "permanenten Koalition" von SPÖ und ÖVP dominierte der repräsentative Charakter der Demokratie.

In diesem Zusammenhang ist in Erinnerung zu rufen, dass die Volksabstimmung als die unmittelbarste, den Gesetzgeber zwingend bindende Willenskundgebung des Souveräns erst zwei Mal (Zwentendorf 1978, EU-Beitritt 1994) zur Anwendung gekommen ist; das Voksbegehren fungierte zumeist als Instrument einer gegen die Regierung mobilisierenden Opposition - ohne dass die parlamentarische Mehrheit je auf die Ergebnisse Rücksicht genommen hätte; die Volksbefragung wurde bisher nur auf Regionalebene eingesetzt. Und wo ist das Gemeinsame? - In den Mechanismen der direkten Demokratie lebt die Erinnerung an den ursprünglichen Anspruch der Demokratie weiter, wonach das Volk "in Tat und Wahrheit" herrschen würde. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus: Politische Realität ist, wie der Nationalökonom Joseph Alois Schumpeter vor Jahrzehnten schrieb, dass das Volk "in Tat und Wahrheit niemals herrscht", "... aber durch Definitionen dazu gebracht werden kann".

Schumpeter, der elitäre Theoretiker, wandte sich in seinen Schriften gegen ein Politikverständnis, das die Zwänge politischer Arbeitsteilung negiert und warnte vor populistischen Tendenzen und plebiszitären Sehnsüchten. Die Grundregel repräsentativer Demokratie lautet, dass nicht das Volk "herrscht", sondern in dessen Auftrag die Volksvertretung.

Wer ist das Volk?

Es ist in diesem Rahmen leider nicht möglich, die Funktion des gleichermaßen unerlässlichen wie fiktiven Begriffs "Volk" für die (direkte) Demokratie zu analysieren, fest steht jedenfalls, dass dieser nur scheinbar eindeutige Begriff in der Geschichte beträchtlichen Wandlungen unterworfen war. Direkte Demokratie forciert die Gefahr, die vom "Volk" nicht erfassten Interessen schlicht unberücksichtigt zu lassen. Dass ausgerechnet im gelobten Land der direkten Demokratie, in der Schweiz, die Frauen erst 1971 (!) das Wahlrecht bekamen, spricht Bände.

Die Grenzen der plebiszitären Demokratie bzw. zwischen für eine Abstimmung geeigneten und nicht geeigneten Themen sind schwer zu ziehen, unbestreitbar ist wohl, dass sie über die Menschenrechte definiert sein müssen.

Die Qualität einer funktionierenden Demokratie bestimmt sich über die Ausgewogenheit und das angemessene Wechselspiel von repräsentativen und plebiszitären Elementen.

Problematisch wird der legitime und in vielerlei Hinsicht verständliche Ruf nach mehr direkter Demokratie vor allem dann, wenn mit der direkt demokratischen Entscheidungsfindung unrealistische Erwartungen verknüpft werden und diese ein tiefes Misstrauen gegenüber dem repräsentativen Charakter der Demokratie erkennen lassen.

Das einfachste aller Parteimitglieder etwa erklärte, dass es keine Parteien mehr geben soll, "sondern Wahlbewegungen, Bürgerrechtsbewegungen ... Die repräsentative Demokratie ist überholt". Die vefassungspolitische Frohbotschaft "Dritte Republik" wurde als "neue Identität von Volk und Volksvertretern" verkündet, der Weg zum Heil soll u. a. über die Direktwahl von Bürgermeistern, Bezirks- und Landeshauptleuten sowie des "Bundesministerpräsidenten" (Kanzler und Präsident in Personalunion) führen. Und dass sich insbesondere das Amt des Bundespräsidenten als plebiszitäres Einfallstor für autoritäre Sehnsüchte eignet - als potenzieller Widerpart zu Parlament und Parteien - ist evident.

Die oben konstatierte Gefahr dämmert vor allem dann herauf, wenn einzelne - ich denke an "Führer" von "Bewegungen" - unter Zuhilfenahme populistischer Techniken der direkten Demokratie ein potemkinsches Dorf errichten, das Mitgestaltungsmöglichkeiten für jeden, an jedem Ort und zu jeder Zeit vorgaukelt. Hinter dieser Fassade plebiszitärer Demokratie würden die realen Machtverhältnisse weiter wuchern - allerdings unbehelligt von den Kontrollmechanismen der repräsentativen Demokratie.

Totalitäre Tendenz

Wer letztere abschaffen will, ebnet nicht der perfekten direkte Demokratie den Weg, sondern der perfekt verschleierten Diktatur, die ihr Spinnennetz über zufriedene Untertanen ausbreitet, ohne dass diese merken, "wie ihnen geschieht.

Fazit: Gegenüber ständigen Abstimmungen über in Wirklichkeit sekundäre Themen, welche die Kernzonen der Macht, insbesondere im Bereich der Ökonomie und der Medien, nicht oder nur unwesentlich tangieren, erscheinen die traditionellen Methoden totalitärer Herrschaftssysteme geradezu als primitiv und einfallslos.

Christian Dickinger, Politologe und Publizist, lebt in Gmunden und Wien; zuletzt erschienen: "Österreichs Präsidenten. Von Karl Renner bis Thomas Klestil"; in Vorbereitung: "Der Kreisky-Androsch-Konflikt, Versuch einer Annäherung" (Studien-Verlag)