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Wien - Zahlreiche Forscher verschiedener Disziplinen haben in der Vergangenheit versucht, den sagenhaften Aufstieg Europas seit dem Frühmittelalter zu erklären. Dass die Landwirtschaft dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat, steht außer Streit. Nun hat der Wiener Sozial- und Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer in der neuesten Ausgabe der Fachzeitschrift "Historische Anthropologie" (Böhlau-Verlag) neue Erklärungsfaktoren zur Debatte gestellt: Nach seiner Ansicht hat vor allem die Verbreitung von Roggen und Hafer - von den Römern noch als Unkraut betrachtet - zu einer zukunftsweisenden Entwicklung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen - weit über die Landwirtschaft hinaus - geführt. Zusammenhänge Mitterauer geht in seiner Arbeit von einem Modell des amerikanischen Biologen und Pulitzer-Preisträgers Jared Diamond aus. Dieser hat in seinem Buch "Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften" u.a. untersucht, wie der Aufstieg von Kulturen mit der Verbreitung bestimmter Wildformen domestizierbarer Getreidearten zusammenhängt. Der Historiker vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien hat nun in seiner Arbeit die Sonderentwicklung von Roggen und Hafer untersucht. Beide sind als Kulturpflanzen relativ jung und haben im Europa nördlich der Alpen im Lauf des Frühmittelalters die bis dahin vorherrschenden Arten wie Emmer, Einkorn oder Gerste zurückgedrängt. Das belegen auch paläobotanische Untersuchungen. Verantwortlich dafür dürften die Klima- und Bodenverhältnisse nördlich der Alpen gewesen sein, die den Anbau dieser Getreidearten besonders begünstigten. Aber nicht nur das Artenspektrum wechselte. Es kam zugleich zu einer Intensivierung des Getreideanbaus bzw. zu einer Ausweitung der vom Getreideanbau beherrschten Zonen. Der Pflug An die These, dass das Aufkommen und die Verbreitung des schweren Pflugs der entscheidende Faktor für diese landwirtschaftliche Revolution war, glaubt Mitterauer nicht. "Die Ausweitung des Anbaus dieser Getreidearten geht der Verbreitung der neuen Pflugform voran, in manchen Gebieten um viele Jahrhunderte", so der Historiker. Mitterauer führt den enormen Aufschwung der Landwirtschaft im Mittelalter auf die "historisch bedeutende Verbindung" zurück, die Roggen und Hafer in der Dreifelderwirtschaft eingegangen sind. Mit weit reichenden Folgen: In West-, Mittel- und Nordeuropa nahm die Bevölkerung in den Jahren 500 bis 1500 von neun auf 22,5 Millionen zu. Dagegen stieg sie im Mittelmeerraum, der aus klimatischen Gründen für dieses System der Landwirtschaft wenig geeignet war, in viel geringerem Maße an. Mühlen Der Roggenanbau dürfte nach Meinung Mitterauers Auslöser für eine weitere Revolution gewesen sein: Seit dem 9. Jahrhundert kam es zu einer enormen Zunahme von Mühlen nördlich der Alpen. Die Wassermühle war zwar schon längst erfunden, auf Grund der unregelmäßigen bzw. zu geringen Wasserführung von Bächen im Mittelmeerraum konnte sie sich dort aber kaum durchsetzen. Erst in den regenreichen Regionen im nordalpinen Europa fand sie die Voraussetzung für eine weitere Verbreitung. Mit dem Roggen stand hier nun auch in Regionen, wo Weizen nicht gedieh, erstmals eine - auf Grund ihres hohen Klebergehalts - backfähige Getreidesorte zur Verfügung. Bei den älteren Breigetreiden war Mahlen ja nicht notwendig. "Die Wassermühle wiederum erscheint als eine der wichtigsten Grundlagen der technisch-industriellen Entwicklung Europas", so Mitterauer. Einen weiteren wichtigen Zusammenhang sieht der Historiker zwischen dem neuen Pflanzenanbau und dem Militärwesen. Der intensivierte Haferanbau habe die verstärkte Pferdehaltung ermöglicht. "Die Panzerreiterheere, die seit der Karolingerzeit das europäische Militärwesen prägten, wären ohne den vermehrten Anbau von Hafer nicht möglich gewesen", so Mitterauer. Die "Agrarrevolution des Frühmittelalters" habe jedenfalls zu einer Verlagerung der Zentren aus der Mittelmeerregion in den Nordwesten des Kontinents geführt, "eine räumliche Ordnung, die bis in die Gegenwart nachwirkt", so der Historiker. Die besondere Dynamik der europäischen Entwicklungsprozesse könne aber sicher nicht auf landwirtschaftliche Faktoren alleine beschränkt werden.(APA)