Die in der Standard-Serie "Was wäre gewesen, wenn ..." formulierten Thesen von Manfred Scheuch und Anton Pelinka zur Person von Engelbert Dollfuß und zur Frage des möglichen österreichischen Widerstandes gegen den "Anschluss" sind zu apodiktisch und führen zu einem verzerrten historischen Bild. Zu Dollfuß ist zu sagen, dass er nicht nur "der Zerstörer der demokratischen Republik" und "der Arbeitermörder" war, sondern auch das prominenteste frühe österreichische Blutopfer des Nationalsozialismus.

Nach katholischer Lehre sühnt das Martyrium alle bis dahin begangenen Sünden und Verbrechen, und der Zweifrontenkampf, auf den sich Dollfuß eingelassen hat, nämlich der gegen die Nazis und die Sozialdemokratie, war zweifellos ein politisches Verbrechen, das aber die Tatsache des Martyriums nicht aufhebt und nichts daran ändert, dass Dollfuß ein Mahner im Sinne seines "Österreich erwache" und ein Vorkämpfer gegen den Nationalsozialismus war.

Doch die linken Kritiker und Historiker sind strenger als die katholische Kirche und wollen nur einen Teil der Wahrheit gelten lassen. Zugunsten Dollfuß' lässt sich übrigens auch sagen, dass die Nazis schon gewusst haben, warum sie gerade ihn umbrachten, denn dieser tapfere Mann hätte nicht so ohne weiteres kapituliert wie Schuschnigg 1938.

Doch diese Bemerkung leitet schon zu der weitaus wichtigeren Frage über, ob ein Widerstand gegen den Einmarsch der deutschen Truppen möglich und sinnvoll gewesen wäre. Wer dies vorschnell verneint, befördert damit, ohne es zu wollen, Hitler in den Rang eines Vollstreckers einer historischen Notwendigkeit. Ich erinnere mich aber an zahlreiche Diskussionen, in denen politisch sonst grundsätzlich verschiedene Persönlichkeiten wie der ehemalige SPÖ-Politiker Franz Olah und der führende österreichische Militärstratege Emil Spanocchi vehement die Meinung vertraten, dass es möglich, notwendig und sinnvoll gewesen wäre, Hitler militärisch entgegenzutreten.

Versäumte Gelegenheit

Österreich hätte Hitler zwar nicht aufhalten können und wäre an Ort und Stelle in Ehren untergegangen, aber die ganze weitere Geschichte hätte vermutlich einen anderen Verlauf genommen, wenn Österreichs Militär Widerstand geleistet hätte. Das Bundesheer war mit verlässlichen Einheiten durchaus einsatzbereit, Spanocchi machte immer wieder das Versagen der politischen Führung für diese Kapitulation verantwortlich.

Es wäre natürlich weitaus besser gewesen, wenn es unter einer funktionierenden Demokratie zu einem organisierten Volkswiderstand gekommen wäre, aber der autoritäre Charakter des Staates hätte nicht unbedingt ein Hindernis für einen solchen Widerstand darstellen müssen, wie es umgekehrt auch im Falle einer funktionierenden Demokratie, wie sie die Tschechoslowakei war, keine Garantie für die Entschlossenheit zum Widerstand gibt, denn auch dieses zweite militärische Opfer Hitlers hat kampflos kapituliert. Es sei in diesem Zusammenhang auch daran erinnert, dass es der damals noch sehr junge Thronfolger Erzherzog Otto war, der sich an die Spitze eines Volkswiderstandes gegen Hitler stellen und Schuschnigg dazu bewegen wollte, ihm die Führung zu überlassen. Er war sich aber im Gegensatz zu Schuschnigg darüber im Klaren, dass die Aussöhnung mit der Sozialdemokratie die Vorbedingung für einen solchen Volkswiderstand gewesen wäre.

So ist die österreichische Geschichte, wie ich in meinem eben erschienenen Buch "... auf halben Wegen und zu halber Tat ..." darstellte, eine Summe von Halbheiten und versäumten Gelegenheiten. Es gilt nur festzuhalten, dass nicht nur eine politische Seite, sondern jede auf ihre Art zum Scheitern der Ersten Republik beigetragen hat.
Norbert Leser,
Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Wien