Die große Oppositionspartei hat sich in ihrer neuen Rolle noch nicht gefunden. Die Sozialdemokraten haben sich zwar nach dem Tief im Sommer des Vorjahrs gefangen. Ihre Performance ist aber nach wie vor nicht umwerfend, wenn man in Rechnung stellt, dass die schwarz-blaue Regierungskoalition seit etlichen Wochen einen mehr als kläglichen Eindruck vermittelt. Die Politik ist widersprüchlich, nicht gerade zukunftsgerichtet, und selbst in den schlechtesten Zeiten der rot-schwarzen Koalitionsjahre ist man nicht so aufeinander losgegangen, wie das jetzt zum Alltag zwischen ÖVP und FPÖ gehört. Man streitet sich wie in einer schlechten Ehe. Dazu kommt das Belastungspaket der Regierung, naturgemäß ein aufgelegter politischer Elfmeter für Oppositionelle. In eine echte Chance umgewandelt hat ihn die SPÖ nicht. Sie bringt ihre Botschaften nur schwer über die Bühne. Schuld an der mangelhaften Oppositionskraft der SPÖ wird gemeinhin dem Vorsitzenden Alfred Gusenbauer gegeben. Ihm werden in erster Linie fehlendes Charisma, unpassende Kleidung, falsches Brillenstyling und sonstige Banalitäten vorgeworfen. Wobei jene, die von Charisma sprechen, meist nur eine vage Ahnung von der Bedeutung des Wortes haben. Denn einem Politiker vorzuwerfen, er verfüge über keine "Amtsgnade, die durch Handauflegen vermittelt wird" (Kluge, 22. Auflage, 1989, über Charisma), ist kühn, wenn man ihm gleichzeitig vorhält, sich sozusagen amtswegig wie ein "altsozialistischer Parteisoldat" zu gebärden. Wieder zeigt sich exemplarisch, dass der politische Diskurs in der Alpenrepublik häufig von oberflächlichen Wahrnehmungen statt von Inhalten bestimmt wird. Davon lebt seit 1986 ein in der Öffentlichkeit als überaus charismatisch geltender Oppositionsführer, der mittlerweile als einfaches Parteimitglied nicht nur seine Partei, sondern auch weitgehend den Koalitionspartner dominiert. Es liegt eben in der Natur des Charismatikers, dass nur er allein heilsbringend ist, wobei man aber frei nach Tante Jolesch formulieren könnte, dass es durchaus kein Unheil sein muss, wenn einen nicht alle Heilsbotschaften ereilen. SPÖ-Vorsitzender Alfred Gusenbauer ist, was diese Fähigkeiten anlangt, zweifellos untertalentiert. Das mag daran liegen, dass analytische Fähigkeiten und simple Weltsicht schwer vereinbar sind. Dafür sind es einige Überlegungen, die er in den ersten Monaten seit Übernahme des Parteivorsitzes angestellt hat, durchaus wert, sich näher damit zu beschäftigen. So hat Gusenbauer schon in seiner Antrittsrede die Idee einer Grundsicherung angesprochen und ließ erstmals eine gewisse Distanz zwischen Partei und Gewerkschaft erkennen. Zuletzt hat er dies deutlich gemacht, als er betonte, dass die rigide Position von ÖGB und Arbeiterkammer zur Osterweiterung der EU nicht seine Linie sei. Dass nun erstmals auch ein GPA-Vorsitzender Hans Sallmutter andere Töne zu diesen Fragen findet, ist möglicherweise darauf zurückzuführen. Nicht völlig von der Hand zu weisen sind auch die wirtschaftspolitischen Vorstellungen Gusenbauers, die er bei der soeben beendeten Neujahrskonferenz formuliert hat. Vor allem das Sofortprogramm zur Behebung des Facharbeitermangels im Technologiebereich hat Hand und Fuß, was in Kreisen der Industrie sowie der Wirtschaft sehr wohl registriert wird. Ein großes Stück Arbeit hat Gusenbauer besonders innerparteilich zu bewältigen. Etliche im Parlamentsklub der SPÖ haben sich noch nicht auf die neuen Zeiten eingestellt. Die Bundesgeschäftsführerinnen werden kaum wahrgenommen, und der Abbau der Parteischulden ist keineswegs ein Spaziergang. Gusenbauer ist noch keineswegs als Oppositionsführer unbestritten und erst recht nicht als Kanzlerkandidat der SPÖ. Ein Stück des Weges dorthin ist ihm aber bereits gelungen. Es ist sein Verdienst, dass er den ursprünglich drohenden Zerfall der Partei in einen rechten und linken Flügel verhindert hat. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.1.2001)