"Leben zwischen den Seiten" - und eine verdüsterte Kindheit an der Seite einer kranken Mutter: Der Prosaerstling der österreichischen Schriftstellerin Corinna Soria, erschienen im Wieser Verlag, erhielt kürzlich den Rauriser Literaturpreis zugesprochen und begeistert das Feuilleton. Cornelia Niedermeier über den Entwicklungsroman, der die Grenzen eines autobiografischen Berichts sprengt. Wien - "Ich bin der Welt abhanden gekommen . . ." - Ein Kind, sieben Jahre alt, begegnet seiner Mutter, soll künftig mit ihr sein Leben führen dürfen. Mit diesem Moment setzt Corinna Sorias Prosaerstling Leben zwischen den Seiten ein und hebt an wie ein kostbares Märchen: "Da ich meiner Mutter Kind werden sollte, nach mehr als sieben Jahr, trüb und klar, seh ich den farbstrahlenden Markt-platz ganz wie mein eigenes Leben, eine Versprechung nach mehr als sieben Jahr, die ich in der Fremde war, strahlend ich und strahlend mein Weg, strahlend die Mutter, die auftauchte aus der Finsternis und mir die goldenen Schuhe gab, ein seidenweiches Kleid und eine Kutsche dazu." Doch der Traum währt kurz, schnell stürzt das Aschenputtel-Kind zurück in die Asche der Realität. Schon der zweite Satz des Buches führt in die Finsternis. Die Mutter, unter Verfolgungswahn stehend, wird mit dem Kind in verdunkelte Zimmer fliehen. Vor wenigen Monaten erst erschien die Erzählung im Klagenfurter Wieser Verlag. Eine unbekannte Autorin, ein kleiner Verlag, und doch trat ein, was selten geschieht: Die Neue Zürcher Zeitung war hingerissen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung stimmte ein, Sigrid Löffler rezensierte Sorias Erzählung in den Literaturen . Im März wird sie den Rauriser Literaturpreis erhalten. Also doch ein wenig Märchen. Mit dem Enthusiasmus der Entdecker würdigt die Literaturwelt das Debüt und steht nicht an, dem Text seinen Ort im literarischen Kanon zuzuweisen. Von der österreichischen Provinz ist die Rede, den Reservaten der unheimlichen Heimatliteratur, von Katholizismus, Ich-Findung, von Thomas Bernhard und Peter Handke. Fremd lagern sich die Etiketten an den Text. Die Autorin, 1962, so der Klappentext, in Salzburg geboren, blickt denn auch verwundert auf das regsame Treiben. Wollte man das Buch kategorisieren, schlüge sie selbst es dem Entwicklungsroman zu. Noch lieber jedoch verzichtet sie auf Ein-Wort-Klassifizierungen. Fünf Jahre hat sie, mit großen Unterbrechungen, an den 160 Seiten der Erzählung geschrieben. Ein "Abfallprodukt" quasi, diese Prosa, ihres eigentlichen lyrischen Werks. Auch das wurde im vergangenen Jahr in Klagenfurt veröffentlicht, bei Alekto - Briefe nach Welfare Island . Ein lyrischer Ton trägt auch die Prosa. Der Rhythmus der Sätze entwickelt einen Sog, fast, als hätten die Balladen der Kindheit sich in die Sprache gedrängt. Balladen nämlich, Rückert und Schiller, und Indianerromane, Karl May und Cooper, Bücher also, Sprache, erretten das Kind aus dem "Orkus" der mütterlichen Krankheit. Mit wehendem Haar galoppiert die Achtjährige, des Erlkönigs Tochter, Winnetous Braut, aus den muffigen Zwangsräumen in lichte Prärien. Oder es ist Musik. Mahlers dritte und vierte Symphonie habe sie während des Schreibens gehört, sagt Soria. Ein Trick, der ihr ermöglichte, auch nach langen Pausen den eigentümlichen Ton des Buches wiederzufinden. Dieser Ton ist es, in seiner artifiziellen Künstlichkeit, der Sorias Buch erlaubt, ganz dicht an das Schicksal ihrer Protagonistin heranzutreten, ohne an Distanz zu verlieren. Die Sprache hält Form, hält Weite. Schützt vor den Gefahren des autobiografischen Berichts. Mit großer Klarheit entwirft Soria Bilder eines Kindseins mit der Krankheit. Die wachsende Paranoia der Mutter, der Hunger im Wohnungsverlies, da keine Nahrung gekauft wird, wo alles von bösen Mächten vergiftet scheint, das Eingesperrtsein mit dem geliebten, gefürchteten "Menschen, der meine Mutter ist". Schließlich das gewaltsame Eindringen der Polizei, die Überführung der Mutter in die geschlossene Station, die Rückkehr des Kindes zur Gastmutter der ersten Jahre. Schule, Ausgeschlossensein, Wiederkehr der Mutter, neuer Wahnsinnsschub, Internat. Rückert-Lieder und Rettung im Buch, in der Fantasie. Ohne Larmoyanz, ohne Bitterkeit wurde der Text in der Wahrhaftigkeit des Erzählens, in der Präzision seiner Weltwahrnehmung der Bericht eines Heranwachsens in Vereinsamung, getragen von einem unbezwingbaren Glauben an die Liebe. Ruth Klüger beschreibt in Weiter leben , wie ihr im KZ das Rezitieren von Gedichten durch die Vollendung der Form ein Gefühl von Sicherheit bot gegen den Tod. Ähnlich errichtet Soria in der Form der Sprache ein Schutzschild gegen die formlosen Abgründe des Wahnsinns. Sie mag der Welt abhanden gekommen sein, einst, und ihr Buch steht fremd in der Literatur jüngerer Autoren. Unberührt vom Großstadtlärm, von der Sozialisation durch Kino, Slime und Paiper. Ein Leben, das aus dem Kanon geworfen wurde. Und heute hineingehoben wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. 1. 2001)