Immer häufiger vernimmt man die Klage, dass zu wenige junge Menschen technische oder naturwissenschaftliche Fächer studieren und es auch im Forschungs-und Entwicklungsbereich des Ingenieurwesens, in der Informatik und in den Wirtschaftswissenschaften - all diese haben mathematisches Know-how zur Voraussetzung - an hoch qualifiziertem Nachwuchs mangelt. Konsequenzen für den Schulunterricht sind jedoch kaum zu bemerken. Hunderte Professorinnen und Professoren kämpfen mit dem Problem, einen einigermaßen anspruchsvollen, interessanten und die Talentierten ihrer Klassen herausfordernden Unterricht mit dem Setzen eines Mindestniveaus für die ihnen anvertrauten und redlich bemühten mathematischen "Kirchenlichter" verbinden zu müssen (und es soll vorkommen, dass sie beim Versuch, diesen Spagat zu meistern, selbst die fachliche oder die pädagogische Orientierung verlieren). Hunderte Nachhilfelehrer profitieren von Gymnasiasten, die die Mathematik überfordert und die ihnen abverlangten Rechenkünste als Zumutung empfinden. Zugleich werden Hunderte mathematische Begabungen nicht oder nur unzureichend gefördert. Dass mit all dem die gesellschaftliche Reputation des Faches Mathematik Schaden nimmt, wirkt sich, wenn auch kurzfristig kaum bemerkt, langfristig ruinös aus: einerseits weil die den Gleichungen und Kurven hilflos gegenüberstehenden Menschen dem modernen, von Mathematik durchdrungenen Forschungs- und Wirtschaftsbetrieb auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Andererseits wegen des schleichenden Verfalls eines Kulturguts - auch dies ist Mathematik! -, das einst die aufgeklärte Gesellschaft mit geschaffen hat und das die Zivilisation vor atavistischen Irrlehren, fundamentalistischen Ideologien und irrationalen Verführungen bewahrt. Den derzeit gängigen Mathematikunterricht kann man mit einem skurrilen Musikunterricht vergleichen, bei dem die Lehrer alle Unmündigen vor die Tasten des Klaviers setzen und von ihnen fordern, das Spielen dieses Instruments zu erlernen. Ein hoffnungsloses Unterfangen bei der Gruppe der Unmusikalischen und selbst bei jenen, die trotz eines sensiblen musikalischen Ohrs nie genügend Fingerfertigkeit erlangen, eine Qual. Eine holprig gestammelte Sonatine von Diabelli oder Clementi - in einem solch armseligen Rahmen bewegen sich in dieser bizarren Parallele die "musikalischen Maturaaufgaben". Reduzieren . . . Niemand erwägt ernsthaft solche Musikstunden. Denn es würde viel mehr schaden, als es nützt: Die Freude an der Musik wäre den meisten verleidet, und die wenigen wirklich Musikalischen empfänden einen derart lächerlichen Unterricht zu Recht als Zeitverschwendung. Der Mathematikunterricht, den alle über sich ergehen lassen müssen, sollte sich - spinnt man diese Analogie weiter - am bescheidenen, dafür aber funktionierenden und keine Traumata erzeugenden Vorbild des real gehandhabten, allgemeinen Musikunterrichts orientieren: Er sollte sich mit anderen Worten darauf beschränken, die wichtigen Resultate mathematischen Denkens so zu präsentieren, dass deren Bedeutung auch der oder dem mathematisch Unbegabten einleuchtet. So wie die meisten Konzertbesucher von der Musik, die sie vernehmen, beeindruckt sind, obwohl nur wenige unter ihnen die technischen Fertigkeiten der daran beteiligten Musiker zu beurteilen vermögen oder gar selbst besitzen. Allerdings darf man annehmen, dass ungleich mehr Menschen mathematisch begabt als musikalisch talentiert sind. Vielen, sogar der überwiegenden Mehrheit, ist in der Volksschule und in der Unterstufe das Rechnen leicht gefallen: Alles war klar und verständlich. Manchen bleibt diese Leichtigkeit des Verstehens auch bis zur Matura erhalten - allein ihr Interesse verkümmert. Andere hingegen tun sich bereits bei den Anfangsgründen der höheren Mathematik nicht mehr so leicht, und das Interesse versiegt rascher, ja es droht sich in Abscheu zu verwandeln. Jedenfalls ist es bedauerlich, wenn selbst ein bescheidenes Maß an mathematischem Talent de facto keine Förderung erfährt. Im herkömmlichen Unterrichtsgeschehen mit den übergroßen Klassen, den völlig divergierenden Begabungen und Interessen kann eine solche Förderung nämlich nur in Ausnahmefällen gelingen. Zwar ist bei der Präsentation eines neuen Lehrstoffs die Größe des Forums der Hörer belanglos. Beim eigentlichen Einüben des mathematischen Wissens und beim individuellen Erwerb mathematischer Fertigkeiten jedoch kann die Gruppe der Lernenden nicht klein genug angesetzt werden. Nüchtern betrachtet ist es unverständlich, dass die musikalisch Begabten ihren Unterricht am Instrument im Normalfall sogar als Einzelunterricht erhalten, dass jedoch im Fach Mathematik die Einübung des Gelernten anhand von ausgeklügelten Beispielen, das kreative Nachdenken über die in den Beispielen verborgene Theorie und über mögliche Verallgemeinerungen und Anwendungen - durchaus vergleichbar der Arbeit des Aneignens und Interpretierens eines musikalischen Meisterwerks - im dazu völlig ungeeigneten Klassen verband erfolgt. Dort geht doch das Individuum hoffnungslos unter! Sicher ist ein individuell gestaltetes Mathematiktutorium im Vergleich zum üblichen Unterricht vor einer 30-köpfigen Klasse aufwendig und daher teuer. Dafür wird nicht jede Schülerin und nicht jeder Schüler ein solches Tutorium extensiv beanspruchen: Viele werden sich mit einem Minimalprogramm zufrieden geben - manche vielleicht völlig darauf verzichten, weil ihnen die wenigen Rudimente eines allgemein gehaltenen Kennenlernens der wichtigsten mathematischen Resultate genügen - wer in Zukunft Kunsthistorikerin oder Psychoanalytiker, Diplomat oder Juristin werden möchte, braucht wirklich kaum mehr von Mathematik zu wissen. . . . und optimieren Dass auf der anderen Seite individuell gestaltete Tutorien einen optimalen Unterrichtsertrag erbringen, dass sie besonders Begabten möglichst früh den Zugang zu einer faszinierenden Fülle dessen, was Mathematik zu bieten hat, eröffnen, ist evident. Für die Zukunft einer modernen Gesellschaft sollten Überlegungen wie diese vor dem zweitrangigen Problem des dabei anfallenden finanziellen Aufwands rangieren. Der offenkundige Bedarf der Wirtschaft und der Technik an mathematisch gut ausgebildeten Maturanten ist nur einer von mehreren möglichen Ansatzpunkten, das Problem der Kosten eines individuell differenzierten Mathematikunterrichts zu lösen. Es wäre jedenfalls eine unverantwortliche Verschwendung der Lebenszeit junger, begabter Menschen und zugleich eine gewissenlose Vergeudung derzeit vielfach noch brachliegender mathematischer Talente, würde man die klägliche Situation der gegenwärtigen mathematischen Ausbildung unverändert lassen. Eine Alternative liegt auf der Hand - es bedarf allein des Muts, sie zu ergreifen. Peter Taschner ist Professor für Analysis und Mathematik an der Technischen Universität in Wien.