Das Fernsehen, sagt Roger Willemsen, habe mit Reality-Soaps eigentlich das gebracht, was Zuschauer längst verlangt haben. Zu vorhersehbar sei die im TV verbreitete "Wirklichkeit" in unzähligen Serien und Filmen gewesen, selbst Nachrichten hätten sich als Darstellung von Realität abgenutzt, so der Autor, TV-Produzent und -Moderator im Gespräch mit dem STANDARD . Nun würde man sich mit einer "literarischen Lust", die Willemsen mit der Freude an der Lektüre von Dostojewskis "Schuld und Sühne" vergleicht, Menschen beim völlig untheatralischen "Schuhezubinden" oder "Gähnen" beobachten. Natürlich sei das auch nicht hundertprozentig authentisch, aber eine größtmögliche Annäherung daran. Weder langweilig noch schamlos, zwei "stereotype Vorwürfe" gegen Reality, seien "Big Brother" oder "Taxi Orange" gewesen. Er habe in den Containern sehr viel Scham gesehen. Und auch das orangene Taxifahren im ORF sei alles andere als "schuldig" geworden. Man habe im Gegensatz zur Mutter aller Voyeur-Shows die Soaps nicht auf ein "Ballermann-Niveau" gebracht. Weit obszöner als Reality seien in Deutschlands Privatfernsehen übliche "Familienzusammenführungen vor einem Millionenpublikum, unter der Voraussetzung, dass die Leute bereit sind, sich tränenreich in die Arme zu fallen". Auch im ORF, meint Willemsen, gebe es andere Formate, die für einen öffentlich-rechtlichen Sender weitaus bedenklicher seien: Die Nachmittagstalkshow "Barbara Karlich" etwa, wo auch Themen wie "Für Geld mache ich alles" behandelt würden. Reality sei also die innovativste Neuentwicklung im Fernsehen seit vielen Jahren. Willemsen ist nun gespannt, wie lange der Boom andauert. Irgendwann werde es "eine Übersättigung" geben. "Da werden wir dann rufen: Gebt mir meine fiktiven Helden wieder. Und wir sind wieder am Anfang der Entwicklung." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 1. 2001)