Stockholm/Budapest/Wien - Fast 90 Jahre alt wäre der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg heute. Auch 55 Jahre nach dem Verschwinden des Retters Tausender Juden aus Budapest haben die historischen Nachforschungen keine Klarheit darüber ergeben, ob Wallenberg zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der berüchtigten sowjetischen Geheimdienstzentrale Lubjanka in Moskau umgekommen ist oder noch am Leben ist. Ein Platz in der Geschichte ist ihm, der im Zweiten Weltkrieg als Angehöriger der schwedischen Botschaft in Budapest durch die Ausstellung von Schutzpässen 100.000 ungarische Juden vor dem Tode rettete, sicher. Adeligen-Spross aus Stockholm Raoul Gustav Wallenberg, Spross einer alteingesessenen schwedischen Adelsfamilie, wurde am 4. August 1912 in Stockholm geboren. Da sein Vater bereits vor Raouls Geburt starb, kümmerte sich zunächst die Großmutter mütterlicherseits, um ihn, die ihm, wie Wallenbergs Halbschwester später bekundete, viel für sein größzügiges und mitfühlendes Wesen mitgab. Nach Raouls neuerlicher Heirat nahm sich Großvater Wallenberg der Erziehung des Buben an. Nach der Matura wurde er nach Frankreich geschickt, dann absolvierte Raoul in Michigan/USA in Rekordzeit ein Architekturstudium. Baustoff-Verkäufer, Bänker, Selbstständiger Am Anfang seines Berufslebens war Wallenberg als Geschäftsmann tätig. In Südafrika verkaufte er für seinen Großvater Baustoffe. Er arbeitete für eine schwedische Bank in Haifa, wo er erstmals mit jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland in Kontakt kam, was ihn prägen sollte. Nach dem Tod seines Großvaters 1937 versuchte Wallenberg zunächst erfolglos, sich geschäftlich selbständig zu machen. 1939 trat er in die Handelsfirma des jüdischen Flüchtlings Koloman Lauer ein, der ihn als nicht-jüdischen Vertreter vor allem nach Deutschland und Ungarn entsandte. Gesandtschaft in Budapest als höhere Aufgabe Doch laut Freunden sehnte sich Raoul Wallenberg nach einer höheren Aufgabe. Als die schwedische Regierung 1942 die Einrichtung einer Gesandtschaft in Budapest beschloss, um so die verfolgten Juden besser schützen zu können, wurde Wallenberg, der das Umfeld aus seiner Geschäftstätigkeit gut kannte und somit geradezu prädestiniert war, für diese heikle Aufgabe ausgewählt. Als Wallenberg 1944 nach Budpest kam, war eines seiner ersten Aktionen die Ausstellung und Verteilung von Schutzpässen für rund 100.000 von der Deportation in deutsche Vernichtungslager bedrohte Juden. Diese Pässe waren eigentlich wertlos, wirkten aber so offiziell, dass deren Träger nicht verhaftet wurden. Mit diversen spektakulären Aktionen schaffte es der junge Diplomat immer wieder, verfolgte Juden dem Zugriff seines Hauptgegners, des deutschen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann, zu entziehen. So kaufte er in Budapest eine Häuserreihe, die er zum Bestand der schwedischen Botschaft erklärte, und wo Hunderte Juden den Holocaust ungefährdet überleben konnten. Unter russische Gefangenschaft geraten Gleich nach Kriegsende wurde Wallenberg von den sowjetischen Truppen unter Spionageverdacht festgenommen, als er mit seinem ungarischen Fahrer Vilmos Langfelder unterwegs war, und nach Moskau überstellt. Vom Lubjanka-Gefängnis des KGB wurde er nach Sibirien in ein Gefangenenlager abtransportiert. Von da an liegt Wallenbergs Schicksal im Dunkel. Seit dem 17. Jänner 1945 gilt der schwedische Juden-Retter als verschollen. Die russische Rehabilitierungskommission für Opfer der Sowjet-Zeit erklärte im Herbst des Vorjahres, Stalins Geheimdienst habe Wallenberg 1947 in Moskau erschossen. Andere sowjetische Unterlagen berichten von Wallenbergs Herztod im Lubjanka-Kerker 1947. Eindeutige Beweise konnte zuletzt auch die schwedisch-russische Kommission nicht liefern. Die Rückgabe von Wallenbergs Habseligkeiten 1989 ließ jedoch den Schluss zu, dass dieser noch kurz vorher gelebt habe. Viele Experten und auch Wallenbergs Familie haben die sowjetisch-russische Version, wonach Wallenberg schon kurz nach Kriegsende umgekommen sei, nie geglaubt. (APA)