In Deutschland herrscht augenblicklich das Quiz-Fieber. Dabei verwandelt sich die Nation in ein Klassenzimmer und arbeitet an einem Widerspruch:

Wir leben in einer Wissensgesellschaft, aber niemand weiß, was er wissen soll. So schaut er im Quiz nach, was die anderen wissen. Die Konzentration auf isolierte Fakten zeigt dabei, dass die neuen Medien Bildung in Information verwandeln. Das zwingt uns, über beide neu nachzudenken und die Kanon-Frage zu stellen.

Zunächst einmal setzt das voraus: Bildungswissen ist nicht gleich Information. Das festzustellen scheint wichtig, da das Schlagwort der Informationsgesellschaft durch die Medien geistert. Vor einigen Jahren hat Hans Magnus Enzensberger das Wissen das Reformators Melanchthon mit dem einer modernen Friseuse verglichen.

Und er kam zu dem überraschenden Ergebnis: Gemessen in reiner Informationsmenge, ist beider Wissen durchaus vergleichbar. Natürlich kennt Melanchthon sämtliche Autoren der Antike, die Lehrbücher der Rhetorik und der Grammatik, die Schulphilosophen und die Kirchenväter. Und er beherrscht das Lateinische, Griechische und Hebräische.

Bedeutung der Massenmedien

Aber auch ihre Wissensmenge kann sich sehen lassen. Sie kennt sämtliche Werbesprüche und Schlagertexte der Zeit, die Preise und Eigenschaften fast aller Kosmetikprodukte, Hunderte von Filmen sowie die Biographien und Liebesverhältnisse einer großen Zahl von Filmstars und Prominenten, nicht zu reden von den Geheimnissen unzähliger Kuren, Diäten, Therapien und Fitnessprogramme. In reinen Bits gemessen, kann sie Melanchthon durchaus das Wasser reichen.

Aber! Ihr Wissen hat keine Struktur. Es ist ohne erkennbare Ordnung, im Grunde ein Müllhaufen.

Sodann sind ihre Informationen von geringer Lebensdauer, ihre Verfallszeit ist extrem kurz, und die meisten sind trivial. Seine dagegen haben eine starke Struktur. Sie beziehen sich weitgehend auf Symbolsysteme, also auf Sprache, Gründungsmythen und die Leitbegriffe, mit denen die damalige Welt konstruiert wird. Sie haben eine lange Lebensdauer und dienen als Basislager, von dem aus Exkursionen in andere Wissensprovinzen unternommen werden können. Und es ist geteiltes Wissen. Wer es sich zu eigen macht, wird Mitglied einer Erbengemeinschaft.

Zugleich ist Bildung nicht nur Wissen, sondern auch Können. Trotz der multimedialen Vermittlung der Informationen durch die neuen Kommunikationstechnologien bleibt die zentrale Kulturtechnik das Verfassen und Lesen von Texten. Warum? In der mündlichen Kommunikation ist die Bedeutung unauflöslich mit der Situation verschmolzen. Erst die Verwandlung in Schrift macht deutlich, was dabei identisch bleibt: Der Sinn. Dabei wird die Situation durch die Konzentration auf ein Thema und innere Kohärenz des Textes ersetzt. Durch Linearisierung wird der Sinn auf die Sequenz der Satzteile abgebildet und über die Grammatik kontrollierbar gemacht. Der Vorgang absorbiert die Aufmerksamkeit und lenkt sie nach innen. Erst dadurch kann der Mensch sich erstens konzentrieren und zweitens sein Inneres erschließen. Kinder, die fernsehen, bevor sie ihre Phantsiebedürfnisse durch gewohnheitsmäßiges Lesen befriedigen, haben später Mühe, wenn sie erwachsen werden, den Zugang zur Buchkultur zu finden.

Gerade die neuen Medien machen aber Sinn zu einer knappen Ressource. Das Internet ist ein Kaufhaus, das Informationen beliebig stapelt. Jeder hat Zugang und kann sich anhand seiner persönlichen Shopping-Liste bedienen. Informationen sind verknüpfungsneutral. Sie sind ohne Anschlusszwang. Deshalb können wir sie getrost den Maschinen überlassen: Die können sie kopieren, speichern, sortieren etc. Das eigentliche Problem ist der Engpass zwischen Maschine und Bewusstsein. Zur Auswahl braucht der Mensch Sinn.

In dieselbe Richtung wirkt noch ein anderer Trend. Die gesellschaftliche Selbstverständigung wird zunehmend durch die Massenmedien geliefert.

Sie synchronisieren das Weltbewusstsein durch Konzentration auf Aktuelles. Den hohen Aufmerksamkeitsgrad bezahlen sie dann durch schnellen Verfall. Die Funktion der Bildung wird also dringlicher, das hysterische Dauerpräsens durch ein kulturelles Gedächtnis auszugleichen. Je mehr Zukunft man hat, desto mehr Vergangenheit.

Das gilt auch für den Wissenstransfer selbst. Wenn Wissen immer wichtiger wird, hängen wir demnächst von Wissen ab, das wir noch gar nicht kennen - denn die Wissensevolution beschleunigt sich auch. Das macht die Zukunft immer unprognostizierbarer. Und das wiederum verbietet es, Aktuelles in den Mittelpunkt der Bildung zu rücken, weil es zu schnell veraltet. Stattdessen brauchen wir Wissen, das vielfach ankoppelbar ist; ein Wissen, das überraschungsresistent und elastisch macht; das den Umgang mit vielen Möglichkeiten trainiert; das also spielerisch ist, und das dazu instand setzt, mit Ambivalenzen, Unentschiedenheiten, Widersprüchen, Geheimnissen, Unbekanntem und Paradoxien zu leben ohne durchzudrehen. Und solches Wissen, das als Basislager für Exkursionen in die verschiedensten Wissensprovinzen dienen kann. Da sind in der Regel Symbolsysteme, Theorien und Formensprachen. Und Geschichten, Erzählungen, Dramen und die verschiedensten nicht-linearen Ereignisverläufe - etwa der Roman. Und ein Überblick über die Geschichte der eigenen Zivilisation. Und eine Grundkenntnis der wichtigsten Begriffe, mit denen wir unsere Welt konstruieren; gemeint sind die Leitwölfe ganzer Rudel von Unterbegriffen, die die theoretischen Biotope beherrschen.

Was die Naturwissenschaften betrifft, so steht auch hier ein grundlegender Wandel ins Haus: Die Kluft der so genannten Geisteswissenschaften beginnt sich zu schließen. Das Subjekt verliert seinen Exklusivanspruch auf Selbstbezüglichkeit - also Reflexion -, und allenthalben finden wir in der Neurobiologie, den kognitiven Wissenschaften, der Forschung zur künstlichen Intelligenz und der allgemeinen Systemtheorie Modelle, in denen Systeme beschrieben werden, die sich selbst organisieren, beschreiben, beobachten und steuern - wie der Mensch.

Die Welt wird weniger mechanisch und von der Wissenschaft wieder verzaubert.

Gute Zeiten für die Bildung.

Dietrich Schwanitz, Anglistik-Professor und Publizist ("Bildung", "Der Campus"), lebt in Hamburg und ist einer der Referenten am VP-Kongress über "Zukunftswelten" in alpbach.