Als Polen vor tausend Jahren ins Licht der Geschichte rückte, befanden sich seine Grenzen ungefähr dort, wo sie heute wieder liegen. Dazwischen lag ein Jahrtausend der Expansion, aber auch des völligen Verschwindens des polnischen Staates.
Polen ist das größte und mit fast 40 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land unter den Staaten, die in den nächsten
Jahren in die Europäische Union aufgenommen werden sollen. Polens Staatsgebiet, heute rund 313.000 Quadratkilometer,
erstreckte sich im Laufe seiner glanz- und leidvollen Geschichte die längste Zeit über weitaus größere Flächen, dann verschwand
es überhaupt von der Landkarte. Im Spannungsfeld zwischen Deutschland und Russland gelegen, ist es schließlich durch die
Folgen des Zweiten Weltkriegs ungefähr auf die Grenzen zurückgeführt worden, die das polnische Siedlungsgebiet vor tausend
Jahren auswies.
Als Polen aus dem Dunkel der Vorzeit mit der Entscheidung seines Fürsten Mieszko aus dem Geschlecht der Piasten, die Taufe
anzunehmen, 966 ins Licht der Geschichte trat, war es schon ein wohlorganisierter Staat.
Die Annahme des Christentums trug zur Überwindung des Stammespartikularismus bei, die ins Land gerufenen katholischen
Priester und Mönche brachten zivilisatorischen Fortschritt und führten durch die Latinität ihres auch von den Würdenträgern
genutzten Schrifttums Polen in die internationale Gemeinschaft des Abendlandes ein. Nun war es den Piastenfürsten möglich,
Heiratsverbindungen mit zahlreichen Herrscherfamilien einzugehen, was den kulturellen Austausch belebte und wechselseitige
Erbansprüche zur Folge hatte.
Die von Mieszko aufgebaute Armee kam seinem Sohn Boleslaw zugute, der den Beinamen Chrobry, "der Kühne", erhielt. Er berief
den böhmischen Bischof Adalbert zur Missionierung der heidnischen, an der Ostseeküste sitzenden, mit den Litauern verwandten
Pruzzen, und als der Missionar dabei den Märtyrertod fand, wurde der Kult um seinen Leichnam zur piastischen Propaganda
benutzt.
Dies führte dazu, dass Polen - im Einverständnis mit dem jungen, schwärmerischen Kaiser Otto III., der Adalberts Grab in
Gniezno/Gnesen besuchte - zur eigenen Kirchenprovinz erhoben und damit vom Erzbistum Magdeburg unabhängig wurde.
Boleslaw gelang es, seinen Machtbereich ringsum gewaltig auszuweiten. Mit der Eroberung der Lausitz, Meißens, Böhmens und
mit einem Feldzug, der bis Kiew führte und Polen auch nach Osten ausdehnte, schien ein großes Slawenreich zu entstehen.
Letzter Triumph war die Krönung Boleslaw Chrobrys zum König. Aber das Reich war auf Sand gebaut. Unter den Nachfolgern
schlitterte es in die Katastrophe. Adelsaufstände im Inneren, Gegenschläge der Nachbarn und Erbteilungen führten zum Zerfall
selbst Kern-Polens. Dem Mongolensturm wehrlos ausgeliefert, wurde Krakau dreimal zerstört; ein schlesischer Piastenherzog
leistete 1241 bei Legnica/Liegnitz todesmutig Widerstand. Das Land zerfiel in Teilfürstentümer, das damals noch slawische
Pommern löste sich aus der polnischen Oberhoheit und wurde ein Reichsfürstentum, die piastischen Teillinien in Schlesien
begünstigten eine zunehmende deutsche Besiedlung.
Lokietek, "Ellenlang" - mit diesem Beinamen spotteten die Leute über Wladyslaw, den Herzog von Kujawien (das Gebiet um
Bydgoszcz/Bromberg). In der Tat schien der kleingewachsene Fürst zunächst nicht einmal imstande, seinen eigenen kleinen
Machtbereich zu behaupten. Der böhmische König Wenzel II. machte sich die polnische Zwietracht zunutze und besetzte
Kleinpolen (das Gebiet um Krakau) und Großpolen (das Gebiet um Posen). Lokietek musste aus dem Land flüchten, Wenzel sah
sich schon als polnischer König.
Aber der kujawische Herzog nutzte sein Exil, um ausländische Freunde als Verbündete zu gewinnen. Mit ihrer Hilfe gewann er
zunächst sein eigenes Herzogtum zurück. Lange Kämpfe zwischen den Anhängern und Gegnern Wladyslaws begannen. Das
Aussterben der Przemysliden in Böhmen begünstigte den Kujawier; die Luxemburger als Nachfolger konnten ihre Ansprüche auf
Polen nicht durchsetzen. Mit der Krönung von Wladyslaw Lokietek 1320 in Krakau konsolidierte sich das polnische Königreich
nach dreihundert Jahren der Wirren.
Inzwischen war Polen im Norden, an der Ostseeküste, ein gefährlicher Feind erwachsen. Ein Herzog von Masowien (dem Land um
Warschau) hatte 1226 den auf einem Kreuzzug gegründeten Deutschritterorden um Hilfe gegen die immer noch heidnischen
Pruzzen an seiner Nordgrenze gerufen und ihm das Kulmer Land (Chelmno) als Ausgangsbasis überlassen. Mit Feuer und
Schwert unterwarfen die Kreuzritter - wie sie nach dem schwarzen Kreuz auf ihren Mänteln genannt wurden - die sich mit dem Mut
der Verzweiflung wehrenden Pruzzen; von ihnen blieb nur der Name, Preußen, erhalten.
Die Deutschritter suchten ihren Machtbereich, zunächst auf das spätere Ostpreußen beschränkt, nach allen Seiten zu erweitern.
Lokietek konnte sie zwar als Bundesgenossen gegen den Einfall der Brandenburger gewinnen, aber nach deren Niederlage
beanspruchten die Helfer nun Pommerellen (das spätere Westpreußen) und die Stadt Danzig/Gdansk vertragsbrüchig für sich. Sie
errichteten in dem neugewonnenen Gebiet die Marienburg (Malbork) als Sitz ihrer Hochmeister - den größten mittelalterlichen
Festungsbau aus Backsteinen.
In den folgenden Jahrzehnten schwelte der Konflikt zwischen den Kreuzrittern und dem um seine Ostseeküste betrogenen Polen.
Gerichtsurteile, die Polen Recht gaben, blieben von den Hochmeistern unbeachtet. Lokieteks Sohn Kasimir III., der später den
Beinamen "der Große" erhielt, war sich der Schwäche seines Landes bewußt: er schloss einen "ewigen Frieden" mit dem Orden
und erkannte die Oberhoheit Böhmens über Schlesien an. Mit allen Kräften, auch gedrängt vom Adel, der sich große Landgüter
und die Sicherung des Handelsweges mit dem Orient erhoffte, wandte sich Polen der Expansion nach Osten zu. Das Aussterben
der Fürsten von Halicz-Wladimir (von diesem leiteten Jahrhunderte später die Habsburger den Namen des Kronlandes Galizien und
Lodomerien ab) nutzte Kasimir zur Angliederung dieses Landstrichs.
Sie ging unmittelbar mit der Katholisierung dieser Gebiete, deren ukrainische Bewohner orthodox waren, einher: die Erzbistümer
Halicz und Lwow/Lemberg wurden gegründet, der Adel polonisiert. Der Eroberung im Südosten folgte die Festigung im Inneren:
nunmehr unterwarfen sich auch die Herzöge von Masowien der Oberhoheit des polnischen Königs. Unter Kasimirs langer
Herrschaft bildete sich die Ständemonarchie in Polen voll aus. Die schon in der Teilfürstenzeit mit Sondergerichtsbarkeit und
weitreichenden Privilegien ausgestattete hohe Geistlichkeit war fast ein Staat im Staate, gleichzeitig aber festigte die Kirche den
Einheitsgedanken in den polnischen Provinzen.
Der Adel, die Szlachta, erfuhr in Kasimirs Zeit eine gewaltige Stärkung seiner Sonderrechte. Da Kasimir ein männlicher Erbe
versagt blieb, trat er für seinen Bundesgenossen und Schwiegersohn, den ungarischen König Ludwig I. aus dem Haus Anjou, als
Nachfolger ein. Die Zustimmung der Szlachta zu dieser Nachfolge wurde durch Privilegien erkauft. die dem Adel praktisch
Steuerfreiheit, das Recht auf die Königswahl und die politische Alleinvertretung der Nation zubilligte. Auch vom Grundbesitz blieben
Nichtadelige ausgeschlossen.
Abgesehen davon, bildete der Adel keine Einheit: die Interessen des aus der Ritterschaft hervorgegangenen niederen Adels
kollidierten oft mit jenen der großen Magnaten. Die Bürger - oft in Städten nach deutschem Recht lebend - erhielten
Selbstverwaltung, was zum Aufblühen von Handel und Handwerk beitrug. Die Masse des Volkes bildeten freilich die in ihrer
persönlichen Freiheit weitgehend beschränkten Bauern.
Der König war allerdings bemüht, der Willkür der adeligen Grundbesitzer Zügel anzulegen. "Während seiner Regierungszeit wagte
keiner der mächtigen Herren oder des Adels dem Armen Gewalt anzutun, alles geschah nach der Schale der Gerechtigkeit",
vermerkt ein Chronist. Der Rechtssicherheit diente auch die Kodifikation des bis dahin oft willkürlich ausgelegten
Gewohnheitsrechtes. Seinen Regierungssitz Krakau stattete Kasimir 1364, im Gründungsjahr auch der Wiener Universität, mit
einer Akademie als Vorstufe zur ersten polnischen Universität aus.
Die nur aufgeschobenen Auseinandersetzung mit dem Ordensstaat bereitete der König durch den Ausbau der Streitkräfte vor. Zur
Verteidigung des Landes wurden allenthalben Burgen - insgesamt 53 - errichtet, die Städte wurden mit Mauern gesichert. "Er hat
ein hölzernes Polen angetroffen und ein steinernes geschaffen", hieß es bei seinem Tod.