Das "Echt-Menschen-Fernsehen" überrollt die Hauptabendprogramme. Bürgerliche Befürchtungen vom Niedergang der (Fernseh-)Kultur stehen einer neuen Generation und ihrer Mediennutzung verständnislos gegenüber. Tatsächlich erfüllen die neuen Sendeformate wesentliche gesellschaftliche Funktionen: Information, Unterhaltung, Meinungsbildung, Identitätskonstruktion, Sozialisation. Was die "Teletubbies" für die Kleinen, sind "Big Brother" oder "Taxi Orange" für die Großen und die Nochnichtgroßen. Gezeigt wird in aller Breite, wie Frauen und Männer miteinander umgehen. Wie sie sich in der Gruppe normkonform verhalten oder auch sanktioniert werden, wenn sie es nicht tun. Wie Kommunikation gelingt oder scheitert. Einfache Interaktionen der TV-Kandidaten und Kandidatinnen, ihre Gespräche, ihre Probleme sind mit einem Mal fernsehtauglich und erhalten für Hunderttausende (Millionen in Deutschland) Bedeutung, weil sie Orientierungshilfe leisten in einer immer komplexer werdenden Welt. Sie zeigen, was "in" ist, was Mode ist, was "hip" ist, was "cool" ist, wie man bei anderen ankommt, usw. Weites Feld Besonders beliebt in der "Lehrstoff"-Hierarchie: Inszenierung und Stilisierung des Körpers. Der moderne gepflegte Mensch, der etwas auf sich hält - egal ob Mann oder Frau - zupft sich die Augenbrauen, lässt Haarpackungen unter Duschhauben einwirken, zeigt nackte Brust (als Mann rasiert ), trainiert selbstverständlich die Muskeln seines ebenso selbstverständlich tätowierten Bodys. Auch traditionelle Geschlechterrollen werden in Frage gestellt. Die jungen feschen Männer machen Haushaltsarbeit gesellschaftsfähig und fernsehtauglich. Kochen, Abwaschen, Staubsaugen, Putzen, Wäsche waschen - alle müssen alles machen. Und wenn sie es bis dato nicht konnten, so lernen sie es jetzt. Wenn es doch einmal unfair wird, weil sich einer "abseilt", können wir auch an dazugehörenden Konflikten teilhaben. Oft gelingen sogar Konfliktlösungen. Bleibt nur zu hoffen, dass von all dem auch etwas für den "wirklichen" Alltag übrig bleibt. Frauenbewegung und politische Kampagnen hatten den Boden ja lange genug aufbereitet. Was TV-Spots `a la "halbe/halbe" auf Grund ihrer polarisierenden Wirkung nicht geschafft haben, könnte sich nun dank der neuen Fernsehformate durchsetzen. Mit etwas Geduld vielleicht ... Von den üblichen Alltagssexismen haben uns die neuen Formate allerdings leider nicht verschont. Frauen werden von Mitbewohnern und männlichen Moderatoren nach ihrem "guaten G'stell" oder ihren "Möpsen" beurteilt, als "Süße" angesprochen und barbusig im String-Tanga gezeigt. Aber vielleicht ergeben sich daraus ja auch noch weitere Lernfelder für "Echt-Menschen", "Echt-Publikum" und "Echt-Produzenten" im neuen Jahrtausend. Dr. Eva Flicker ist Soziologin an der Universität Wien. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13./14. Jänner 2001)