International
Das Empire schlägt alles
Zwei grundsätzliche Überlegungen bilden den Ausgangspunkt des Buches "Empire", das Michael Hardt und ich gemeinsam geschrieben haben, und zwar zwischen Golf- und Kosovo-Krieg. Die erste Überlegung besagt, dass es einen Weltmarkt (in dem Sinn, den man dem Begriff seit dem Fall der Berliner Mauer geben kann, also nicht bloß als makroökonomisches Modell, sondern als politische Kategorie) nicht ohne eine Form rechtlicher Regulierung geben kann. Diese Rechtsordnung wiederum kann nicht ohne eine Macht existieren, die ihre Durchsetzung garantiert.
Die zweite Überlegung besagt, dass die Rechtsordnung des globalisierten Markts (den
wir "imperial" nennen) nicht nur eine neue höchste Form der Macht abbildet, die durch
sie organisiert werden soll; in dieser Rechtsordnung schlagen sich auch neuartige
Kräfte des Alltagslebens und des Widerstandes, der Produktion und des Klassenkampfes
nieder.
Seit dem Fall der Berliner Mauer haben die Ereignisse der internationalen Politik
unsere Grundannahmen im Großen und Ganzen bestätigt. Nun ist es an der Zeit, sie zur
Diskussion zu stellen und die Begriffe (oder besser die Kategorien), die wir vorschlagen,
im Lichte dieser Erfahrung zu überprüfen. Wir verfolgen damit auch das Ziel, die Politik-
und Rechtswissenschaften angesichts der veränderten Organisationsform der globalisierten
Macht zu erneuern.
Es wäre töricht, heute die Existenz eines globalisierten Markts zu leugnen. Im Internet
zu surfen mag genügen, um sich zu überzeugen: Die globale Dimension des Markts stellt
nicht nur eine genuine Form des Bewusstseins dar, auch nicht nur den Horizont einer
über einen langen Zeitraum entstandenen praktischen Vorstellung (wie ihn Fernand Braudel
für das Ende der Renaissance beschreibt), sie repräsentiert vielmehr eine zeitgenössische
Organisationsform, mehr noch, sie ist eine neue Ordnung.
Der globalisierte Markt gewinnt seine politische Einheit durch die Attribute, die
immer schon die Souveränität gekennzeichnet haben: durch militärische, monetäre, kommunikative, kulturelle und sprachliche Macht. Die militärische Macht rührt aus der unumschränkten Verfügungsgewalt über ein umfassendes Rüstungsarsenal, inklusive Nuklearwaffen. Die monetäre Macht beruht auf der Existenz einer hegemonialen Währung, der die Finanzwelt trotz ihrer Vielgestaltigkeit vollständig untergeordnet ist. Die Macht der Kommunikation zeigt sich im Triumph eines einzigen kulturellen Modells oder gar einer einzigen universellen Sprache. Dieses Machtdispositiv ist supranational, global und total: Wir nennen es "Empire" (Imperium).
Zugleich muss man diese "imperiale" Regierungsform von der unterscheiden, die lange
Zeit "Imperialismus" genannt wurde. Denn in diesem Begriff klingt die grenzüberschreitende
Expansion des Nationalstaates an; er steht für die Durchsetzung kolonialer Verhältnisse
(häufig unter dem Vorwand der Modernisierung) auf Kosten jener Völker, denen bis dahin
eine weitgehend auf Europa beschränkte Entwicklung kapitalistischer Zivilisation fremd
war. Und nicht zuletzt steht Imperialismus für staatliche, militärische und ökonomische,
für kulturelle oder gar rassistische Aggression starker Staaten gegen ärmere Länder.
In der aktuellen imperialen Phase gibt es keinen Imperialismus mehr. Und wo er weiterbesteht,
ist er eine Übergangserscheinung, die auf eine Zirkulation der Werte und der Machtverhältnisse
im Rahmen des Empire hintendiert. Und auch der Nationalstaat hat aufgehört zu existieren.
Ihm sind drei wesentliche Felder der Souveränität – Militär, Politik, Kultur – abhanden
gekommen, die durch die zentralen Mächte des Imperiums aufgesogen und abgelöst wurden.
Die Unterordnung der alten Kolonialländer unter die imperialistischen Nationalstaaten
ist verschwunden oder im Schwinden begriffen und mit ihr die imperialistische Hierarchisierung
der Kontinente und Nationen. Alles reorganisiert sich und richtet sich auf den neuen
und einheitlichen Horizont des Empire aus.
Warum der Begriff "Empire" (der auf die Neuartigkeit der Rechtsform abhebt, die er
impliziert), für etwas, was man auch schlicht als US-Imperialismus nach dem Fall der
Mauer bezeichnen könnte? Unsere Antwort auf diese Frage ist klar: Im Gegensatz zu
dem, was die letzten Verfechter des Nationalismus behaupten, ist das Empire nicht
etwa ein US-amerikanisches – wie übrigens die USA im Lauf ihrer Geschichte auch weniger
imperialistisch war als England, Frankreich, Russland oder Holland. Nein, das Empire
ist schlicht kapitalistisch. Es ist die Ordnung des "Gesamtkapitals", also der Kraft,
die den Bürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen hat.
Wer das Empire im Namen des Nationalstaats bekämpfen will, verkennt völlig die Realität
seiner supranationalen Befehlsstruktur, seiner imperialen Gestalt und seines Klassencharakters.
So zu handeln wäre eine Mystifikation. Am Empire des "Gesamtkapitals" sind etwa US-amerikanische
und europäische Kapitalisten gleichermaßen beteiligt, russische Kapitalisten, die
durch die korrupten Verhältnisse in ihrem Lande reich geworden sind, ebenso wie arabische,
asiatische und afrikanische Großverdiener, die ihre Kinder zum Studium nach Harvard
und ihr Geld um der Vermehrung willen an die Wall Street schicken.
Es stimmt zwar, dass sich die US-amerikanischen Führungskader nicht von der Verantwortung
für die imperiale Herrschaft lossprechen können. Dennoch glauben wir (Michael Hardt
und ich), dass man diese Aussage differenzieren sollte. Die Formation der US-amerikanischen
Eliten wird künftig ihrerseits weitgehend von der multinationalen Struktur der Macht
abhängen. Die "monarchische" Macht des US-Präsidenten unterliegt dem Einfluss der
"aristokratischen" Macht, die bei den großen multinationalen Finanz-, Dienstleistungs-
und Industrieunternehmen konzentriert ist. Gleichzeitig muss sie den Druck aus armen
Ländern oder auch von gewerkschaftlichen Organisationen in Rechnung stellen, also
kurz gesagt die "demokratische" Macht, welche die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen
repräsentiert.
Dies würde einer Definition der imperialen Macht entsprechen, wie sie bereits Polybius
1
formuliert hat: Demnach könnte die US-amerikanischen Verfassung ihren Wirkungsbereich
derart ausweiten, dass es ihr möglich wird, im Weltmaßstab eine Vielzahl von Regierungsfunktionen
zu etablieren und im Zuge ihrer eigenen Entwicklungsdynamik einen globalisierten öffentlichen
Raum aufzubauen. Das berühmte "Ende der Geschichte" meint genau dieses Gleichgewicht
monarchischer, aristokratischer und demokratischer Funktionen, das sich in einer amerikanischen
Verfassung niederschlägt, die sich in imperialer Weise auf den Weltmarkt ausgedehnt
hätte.
In Wirklichkeit sind die Herrschaftsphantasien eines solchen Empire zum großen Teil
völlig illusorisch. Dennoch sind aber seine Rechtsordnung, sein politisches System
und seine souveräne Gewalt effektiver als die vorangegangener Regierungsformen (und
durchaus mit totalitären Zügen ausgestattet). In einem fortschreitenden Prozess der
Durchdringung aller Regionen der Erde nutzt das Empire die weltweiten ökonomischen
und finanzpolitischen Verhältnisse zur Durchsetzung des imperialen Rechts. Ja, schlimmer
noch: Es intensiviert die Kontrolle über alle Aspekte des Lebens.
Deshalb betonen wir die neue "biopolitische" Qualität der "imperialen" Macht, deren
Herausbildung durch einen Einschnitt markiert ist: durch den Übergang von der fordistischen
Organisation der Arbeit zur postfordistischen, von einer auf die Fabrik konzentrierten
Produktionsweise zu weit umfassenderen Verwertungs- und Ausbeutungsformen. Dabei handelt
es sich um gesellschaftliche, immaterielle Formen, die auch das Leben in seinen intellektuellen
und affektiven Äußerungen betreffen, die Reproduktionszeiten, die Wanderungen der
Armen über die Kontinente usw. Das Empire schafft eine biopolitische Ordnung, weil
die Produktion biopolitisch geworden ist.
Anders ausgedrückt: Der Nationalstaat verfügt über die Dispositive der Disziplinargesellschaft,
um Machtausübung und Konsensfindung zu organisieren und zugleich eine soziale und
produktive Integration samt den entsprechenden Staatsbürgerschaftsmodellen zu etablieren.
Das Empire hingegen entwickelt Kontrolldispositive, die sämtliche Aspekte des Lebens
besetzen und diese nach dem Muster von Produktion und Staatsbürgerschaft ummodeln,
was auf eine totalitäre Manipulation aller Aktivitäten, der Umwelt, der sozialen und
kulturellen Verhältnisse usw. hinausläuft.
So wie die räumliche Dezentralisierung der Produktion zur gesellschaftlichen Mobilität
und Flexibilität beiträgt, so verstärkt sie auch die Pyramidenstruktur der Macht und
die weltweite Kontrolle über die Aktivierung der betroffenen Gesellschaften. Der Prozess
ist offenbar irreversibel geworden und macht sich allenthalben geltend: in der Entwicklung
von den Nationen zum Empire, in der Verlagerung der Wertschöpfung von der Fabrik in
die Gesellschaft, in der Ablösung von Arbeit durch Kommunikation und schließlich auch
im Übergang von disziplinarischen Herrschaftsformen zu Kontrollprozeduren.
Was sind die Ursachen für diese Prozesse? Unserer Ansicht nach sind sie das Resultat
der Kämpfe der Arbeiterklasse, des Proletariats der Dritten Welt und der Emanzipationsbewegungen
in den Ländern des ehemaligen Realsozialismus. Das ist genau die Herangehensweise
von Marx: Die Kämpfe sind der Motor der Entwicklung, die proletarischen Bewegungen
machen die Geschichte.
Die Arbeiterkämpfe gegen die taylorisierte Arbeit haben die technologische Revolution
beschleunigt, die dann zur Vergesellschaftung wie zur Computerisierung aller Produktion
drängte. In gleicher Weise sorgen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den postkolonialen
Gesellschaften Asiens und Afrikas mit ihrem unwiderstehlichen Druck dafür, dass die
Produktivität sich sprunghaft erhöht und Migrationsbewegungen entstehen, welche die
nationalen Schranken der Arbeitsmärkte einreißen. In den früher so genannten sozialistischen
Ländern schließlich war es der Freiheitswunsch des neuen technischen und intellektuellen
Proletariats, der die überholte sozialistische Disziplin ins Wanken gebracht und zugleich
die stalinistische Verzerrung der Weltmarktbedingungen aufgehoben hat.
Die Entstehung des Empire ist die kapitalistische Reaktion auf die Krise der Methoden,
die einst dazu dienten, die Arbeitskraft im Weltmaßstab zu disziplinieren. Damit beginnt
zugleich eine neue Periode im Kampf der Ausgebeuteten gegen die Macht des Kapitals.
Der Nationalstaat, der zugleich den Klassenkampf einhegte, verschwindet – wie vor
ihm der koloniale oder der imperialistische Staat.
In den Arbeiterbewegungen, der Klasse, dem Proletariat die Ursache für diese Veränderung
im kapitalistischen Machtsystem zu sehen heißt, darauf zu bestehen, dass die Menschen
ihrer Befreiung von der kapitalistischen Produktionsweise näher kommen. Und sich zugleich
von Leuten zu distanzieren, die Krokodilstränen über das Ende der korporativen Kompromisse
vergießen, wie sie für den Sozialismus und die nationalen Gewerkschaftsstrategien
bezeichnend waren. Das bedeutet zugleich eine Distanzierung von denen, die den wunderbaren
alten Zeiten nachtrauern – also einem sozialen Reformismus, der durchtränkt ist von
den Ressentiments und Neidgefühlen, die nur allzu häufig unter der Utopie schwelten.
Machen wir uns nichts vor: Wir befinden uns inmitten des Weltmarkts. Doch wir bemühen
uns noch immer, dem Traum Gestalt zu geben, eines Tages die ausgebeuteten Klassen
im Schoß der kommunistischen Internationale zu vereinigen. Denn wir sehen neue Kräfte
heranwachsen.
Aber können die Kämpfe sich so massiv und durchschlagend entwickeln, dass sie die
komplexe Ordnung des Empires zu destabilisieren, wenn nicht gar zu zerstören vermögen?
Diese Hypothese veranlasst die "Realisten" aller Schattierungen zu ironischen Kommentaren:
Das System ist so stark! Doch für die Kritische Theorie ist eine vernünftige Utopie
nichts Ungewöhnliches. Im Übrigen bleibt uns keine Alternative, denn wir werden in
diesem Empire ausgebeutet und unterdrückt und nicht irgendwo sonst. Das Empire ist
nun einmal die gegenwärtige Ordnung eines Kapitalismus, der nach einem Jahrhundert
historisch beispielloser proletarischer Kämpfe eine neue Gestalt ausbildet. Unser
Buch setzt also eine gewisse Sehnsucht nach dem Kommunismus voraus.
Das zentrale Thema, das durch all diese Analysen durchscheint, lässt sich in der
Tat auf eine einzige Frage reduzieren: Wie kann innerhalb des Empire der Bürgerkrieg
der Massen gegen das weltweite Kapital zu Ausbruch kommen? Hier liefern uns die ersten
Erfahrungen aus – erklärten oder versteckten – Konflikten auf dem Terrain der neuen
Machtverhältnisse bereits wertvolle Hinweise. In diesen Kämpfen wird – über ein garantiertes
Einkommen hinaus – die Forderung artikuliert, dass die Demokratie eine neue Bedeutung
gewinnt, und zwar als Kontrolle über die politischen Bedingungen der Reproduktion
des Lebens.
Diese Kämpfe entwickeln sich aus Volksbewegungen, die den nationalstaatlichen Rahmen
hinter sich lassen und auf universelle Bürgerrechte und die Abschaffung der Grenzen
abzielen. Sie werden von Individuen und Gruppierungen geführt, die den aus Produktionsmitteln
geschaffenen Reichtum zurückgewinnen wollen, Produktionsmittel, die dank der permanenten
technologischen Revolution Eigentum der Subjekte geworden sind - mehr noch: die sozusagen
als Prothesen ihrer Gehirne anzusehen sind.
Die hier vorgetragenen Gedanken entstanden weitgehend im Laufe der Demonstrationen,
die im Winter 1995 in Paris stattfanden. Diese "Pariser Commune unter dem Schnee"
engagierte sich nicht nur für die Verteidigung des öffentlichen Transportwesens, sondern
sie bedeutete viel mehr einen subversiven Prozess der Selbsterkenntnis von Bürgerinnen
und Bürger in den großen Städten. Diese Erfahrung liegt nun bereits einige Jahre zurück.
Gleichwohl hat sich in allen Kämpfen, die seitdem gegen das Empire stattgefunden haben,
etwas manifestiert, was sie vor allem anderen auszeichnet: das neue Bewusstsein, dass
im Leben wie in der Produktion das gemeinschaftliche Wohl entscheidend ist, und zwar
weit mehr als das "Private" oder das "Nationale", um diese veralteten Begriffe zu
verwenden. Gegen das Empire erhebt sich einzig und allein das
"Gemeinschaftliche"
2
.
Deutsch von Thomas Atzert
Antonio bzw. Toni Negri
ist, zusammen mit Michael Hardt, Autor von "Empire" (Harvard
University Press, Cambridge 2000). Der ehemalige Chef der linken Gruppe Arbeitermacht
(Potere operaio) ist derzeit im römischen Gefängnis Rebibbia inhaftiert. Wegen "bewaffneten
Aufstands gegen den Staat" war er zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt worden und
hatte wegen der "moralischen Verantwortung" für die Zusammenstöße zwischen autonomen
Militanten und der Polizei im Mailand der Jahre 1973 bis 1977 viereinhalb Jahre zusätzlich
erhalten. Gegenwärtig ist er Freigänger. Bis zu seiner freiwilligen Rückkehr nach
Italien 1997 lebte er 14 Jahre im Exil in Paris und war unter anderem Hochschullehrer
an der Universität Paris VIII sowie am Collège International de Philosophie.
Von Toni Negri liegen auf Deutsch unter anderem vor, zusammen mit Maurizio Lazzarato
und Paolo Virno: "
Umherschweifende Produzenten
", 1998; zusammen mit Michael Hardt:
"
Die Arbeit des Dionysos
", 1997, beide
ID-Verlag
, Berlin.
Fußnoten:
1
Polybius, geb. zwischen 210 und 202 v. u. Z., lebte nach dem Zusammenbruch Makedoniens
im römischen Exil und erlangte Bedeutung als Geschichtsschreiber der Siege Roms über
Karthago und der römischen Expansion in den vorderen Orient. Pragmatisch orientiert,
war er bestrebt, die Ursachen der historischen Entwicklungen, die er miterlebte, zu
ergründen. Er starb um das Jahr 120 v. u. Z.
2
Das "Gemeinschaftliche" (le commun) – im Unterschied zum Gemeinwohl (le bien commun)
– ist ein Konzept, über das Toni Negri arbeitet.