Nordkoreas Führer Kim Yong Il hat sich zum zweitenmal innerhalb von acht Monaten die benachbarte Volksrepublik China zum Ziel einer Auslandsreise gewählt, um politische und wirtschaftliche Unterstützung für die graduelle Öffnung seines stalinistisch regierten Landes zu erhalten. Kim, der am Montag mit einem Sonderzug nach China fuhr, begann gestern genau eine Woche vor dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten George Bush seine Reise mit einem Besuch in der Supermetrople und Hafenstadt Shanghai. China ist Nordkoreas einziger politischer Verbündeter und mit Russland gemeinsam ein entschiedener Gegner amerikanisch-japanischer Pläne zur Stationierung eines Raketenabwehrsystems. Unter Präsident Bush drohen solche Pläne, die die USA vor allem mit der Abwehr der Raketengefahr aus Nordkorea begründen, wieder aktuell zu werden. Kims bewusst als erstes Reiseziel gewählte Stadt Shanghai und Vorbereitungen für einen heutigen Besuch der Shanghaier Sonderwirtschaftszone Pudong, wo er auch untergebracht wurde, bekräftigten Spekulationen, dass er sich nach den außenpolitischen Lockerungsübungen des Jahres 2000 nun an die Erneuerung seines von einer schweren Wirtschaftskrise und seit 1995 andauernden Hungersnöten geplagten Landes heranwagen will. "Mutig technisch erneuern" Chinesische Zeitungen berichteten, dass Kim Yong Il "auf Reformkurs ist" und wirtschaftlich umdenke. Als Belege dafür zitierten sie aus jüngsten Reden Kims, wonach Nordkorea eine grundlegende Sanierung der Wirtschaft benötige, für die es notwendig sei "umzudenken, sich von alten überholten Dingen und Vorstellungen zu lösen und mutig die technische Erneuerung anzustreben". Während auf Kims ersten Besuch vom 29. bis 31. Mai 2000 in Peking die Öffnung Nordkoreas gegenüber Südkorea erfolgte und es darauf zum historischen Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea kam, wird erwartet, dass Kim nach seinen Gesprächen in Peking mit Chinas Parteispitze nach seiner Rückkehr in Pjöngjang einen Termin für seinen Gegenbesuch in Seoul, der noch für Frühjahr erwartet wird, bekannt geben wird. Immer mehr Staaten sind bereit, auf die ersten Schritte Nordkoreas für eine Öffnung des Landes mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu reagieren. Am Dienstag kündigten die Niederlande als achter europäischer Staat die Aufnahme solcher Beziehungen an, nach Österreich, Dänemark, Finnland, Portugal, Schweden, Italien und Großbritannien. Die UNO hat unterdessen darauf hingewiesen, dass das schwer gezeichnete Land erneut vor einer Nahrungsmittelknappheit steht. 2001 müssen wieder rund 1,8 Millionen Tonnen Getreide importiert werden. Schätzungen des US-Kongresses zufolge sind seit 1995 rund zwei Millionen Nordkoreaner an den Folgen chronischer Unterernährung gestorben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. 1. 2001)