Deutschland erlebt derzeit ein paradoxes Szenario: Da gibt es einerseits "Enthüllungen", die keine sind (denn jeder wusste Bescheid). Und da gibt es andererseits den Effekt, dass diese dem "Enthüllten" nicht schaden - im Gegenteil: Der deutsche Außenminister wurde durch seine Vergangenheit im Amt - entgegen allen Vermutungen - eher bestärkt als geschwächt.

Schon bislang hatte Fischer aufgrund seiner Biografie eine besondere Funktion zu erfüllen: Er sollte die Integration einer widerspenstigen Generation, die Überwindung des Traumas vom "deutschen Herbst" repräsentieren und vollziehen. Ja, mehr noch: Gerade Fischer mit seinen ehemaligen "Sünden" sollte der Würde des Amtes ein besonderes Gewicht verleihen. Gemäß dem Paradoxon, wonach das "Charisma von jenen Zügen gestützt wird, die es zu schwächen scheinen" (Slavoj Zizek).

Wundermaschine

Die Logik, die dem zugrunde liegt, besagt: Je größer die Integrationsleistung, desto stärker die Demokratie. Diese erscheint damit als demokratische Wundermaschine: Man speist Rebellen ein, und Staatsmänner kommen raus. Deshalb geht es in der "Causa Fischer" auch nicht so sehr um die allerorts erörterte Frage: Ist er nun ein Opportunist - oder nicht? Denn deren wesentliche Bedeutung liegt in der Transformation. Diese ist recht eigentlich ein "politisches Wunder" und wird folgerichtig als Politische Theologie neuer Art verstanden.

Dementsprechend ist auch das Vokabular der Kommentatoren: Sie sprechen von einem Wandel, von Saulus und Paulus, von Buße, Reue, Bekennen, Metamorphose. Insgesamt scheint sich hier das Wunder der Verwandlung schlechthin zu vollziehen: eine Transsubstantiation.

Transsubstantiation

Und Fischers Qualität besteht darin, diese Transsubstantiation zu verkörpern. Das macht ihn so glaubwürdig. Er verkörpert sie metaphorisch - als die deutsche Version des American Dream: vom Straßenkämpfer zum Vizekanzler. Aber er verkörpert diese Transsubstantiation auch unmittelbar - durch seine unglaubliche leibliche Verwandlung. Diese kulminiert in seinem "Generationen versöhnende(n) Knautschgesicht, in dem in wunderbarer Weise alle Altersstufen, vom Säugling bis zum Greisentum aufgehoben beziehungsweise vorweggenommen scheinen" (so die Berliner Zeitung in einem poetischen Höhenflug).

Je größer die Verwandlung, desto größer ist das Wunder. Je größer der Abstand, desto größer ist die Potenz der Demokratie-Maschine. (Deshalb irrt Joachim Riedl, wenn er im Format Fischer mit Haider vergleicht, als zwei Männer "mit Vergangenheit". Was sie trennt, ist entscheidend: Haider ging nie nach Damaskus.) Aber gerade die Bild gewordenen "Enthüllungen" der letzten Zeit drohten diese Wunder-Logik zu erschüttern. Sie haben nämlich deutlich gemacht, dass die Integrationskraft der Demokratie ihre Grenze hat.

Und genau diese Grenze ist in den vergangenen zwei Wochen neu verhandelt worden: Was ist tolerierbar - was nicht? Es hat sich eindeutig herauskristallisiert, dass nicht das Verprügeln von Polizisten, sondern das Werfen von Molotowcocktails diese neue Grenze darstellt. Diesseits handelt es sich um Rebellion - jenseits um Terrorismus. Ersteres ist integrierbar, Zweiteres nicht. Dass dabei - unter der Hand - neue Parameter erstellt wurden, die besagen, dass Rebellionen kein "Außen" der demokratischen Gesellschaft mehr darstellen, sei nur nebenbei bemerkt.

Das Wunder zeigt sich in der Abgrenzung

Um diesen Grenzverlauf deutlich zu machen, reicht eine Figur allein aber nicht aus. Dazu bedarf es eines Zweiten. Deshalb musste der mutmaßliche Terrorist Hans-Joachim Klein Fischer zur Seite springen - als Ergänzung. Erst in dieser Kombination kann Fischer seine Rolle wirklich erfüllen (vorausgesetzt, er hat keine Mollis geworfen). Erst in Abgrenzung zum tragischen Bösewicht, der des demokratischen Wunders nicht teilhaftig wurde, erscheint Fischer vollständig als jene Figur, als die er längst geliebt wird: als Held.

Demokratischer Held

Frank Schirrmacher schreibt in der FAZ, dass "zivile Phasen" solche Helden eigentlich nicht kennen. Tatsächlich aber gibt es sehr wohl die unmögliche Figur des "demokratischen Helden", dessen Charisma daraus erwächst, dass er Träger einer anderen historischen Erfahrung ist, dass er eine Zeitenwende repräsentiert. Sein Schicksalsweg garantiert, dass ein Epochenwechsel stattgefunden hat.

Den Übergang der Versöhnung aber, der dem zugrunde liegt, den hat Fischer erst jetzt vollzogen: in der Szene bei Gericht (und bei deren Verlängerung im Parlament), wo er souverän als die Verkörperung des demokratischen Wunders aufgetreten ist.

Damit hat er nicht nur die Angriffe pariert, er hat auch den Glauben an die symbolische Funktion der Autorität erneuert. 82 Prozent der Deutschen stehen hinter ihm. Kann man sich Vergleichbares in Österreich vorstellen?

Isolde Charim ist Philosophin in Wien.