Sir Simon Rattle, designierter Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, kritisierte im STANDARD-Interview am 26. 7. 1999 die Wiener Staatsoper und erklärte, dort nicht dirigieren zu wollen. Staatsopernchef Ioan Holender antwortet ihm:

Sehr geehrter
Herr Simon Rattle!

Es ist jetzt in kürzester Zeit das dritte Mal, dass Sie in einer österreichischen Zeitung bekannt geben, an der Wiener Staatsoper nicht dirigieren zu wollen. Vor ziemlich genau zehn Jahren habe ich Ihnen dies in einem persönlichen Gespräch angeboten. Schon damals waren Sie, obwohl noch kein Sir, ein sehr guter Dirigent und sagten mir, nur das "schlaue Füchslein" von Janácek käme momentan für Sie in Frage. Da dieses Stück aber bereits für die Volksoper vorgesehen war, kamen wir leider nicht zusammen.

Sie denken also heute, die Staatsoper ist einfach unmöglich, und für den Rest der Welt ist das, was hier vor sich geht, ein "Mysterium"!

Nun müssen aber auch Sie, Sir Simon, zur Kenntnis nehmen, dass das von diesem "unmöglichen Mysterium" Dargebotene vom "Rest der Welt" geradezu besuchermäßig gestürmt wird. Die Wiener Staatsoper ist das am besten besuchte Opernhaus der Welt - und wir haben Einladungen zu Gastspielen aus der ganzen Welt - u.a. demnächst wieder in Japan und - als eines von nur drei Opernhäusern weltweit - zu den Verdi-Feierlichkeiten der Scala.

Auch ich verstehe die Idee eines Dramas ohne wirkliche Kontaktnahme der Akteure nicht. Aber was berechtigt Sie zur Annahme, dass die Vorstellungen an der Wiener Oper nicht geprobt werden?

Der Ring hat Ihnen also sehr gefallen und Lohengrin nicht. Schön. Auch ich habe mich bei den Boréades zum Teil furchtbar fadisiert, und es wird auch anderen jetzt so ergehen. Das heißt aber doch noch lange nicht, dass die Salzburger Festspiele unmöglich sind, oder?

Und, lieber Herr Rattle, keine Angst, auch wir machen nicht so Oper, dass bei jeder Cosi die Holzbläser wechseln, und auch die Dirigenten der Wiener Staatsoper (u.a. Ozawa, Muti, Gielen, Mehta, Sinopoli) täten dies nicht - nicht einmal an der Wiener Staatsoper. Aber wenn mal ein Streicher wechselt, geht bei uns die Welt nicht unter - Ihre sollte es auch nicht.

In diesem Sinne grüßt Sie der Leiter des "unmöglichen Mysteriums Wiener Staatsoper". Ioan Holender

Antwortet auf die Kritik des Dirigenten Simon Rattle (li.): Wiens Staatsopernchef Ioan HolenderFotos: APA, Reuters