Ich höre Stimmen. Ständig. Überall. Und alle sind so endlos nett und wohlwollend, dass ich mich gleich ganz übel fühle. Mittlerweile sogar die in der U-Bahn. Und mittlerweile kenne ich sogar schon ein paar der Gesichter zu den Menschen deren Stimmen ich mitunter öfter höre, als jene der Menschen, neben denen ich aufwache oder mit denen ich meine Tage verbringe. Über Chris Lohner brauchen wir nicht eigens zu reden: Fernsehgesichter zählen nicht. (Und so oft fahre ich auch nicht mit der Bahn). Aber auch der Mann, der in Wien die Stationen der Wiener Linien ansagt, ist schon lange kein Unbekannter mehr: Rund 700 mal habe ich diese Reportage über den Fahrer, dessen Stimme eins Tages als so angenehm aufgefallen war, schon gelesen. Dass er keine eigene Sprecherausbildung hat und dass er seinen Dienst trotz der verantwortungsvollen Aufgabe, die Aussprache praktisch aller von Öffis angefahrenen Wiener Destinationen zu definieren, wie jeder andere Kollege weiterhin erfüllt. Keine Schwimmwesten in der U-Bahn Dann wäre da noch jener U-Bahn-Fahrer, der in seinem Zug ein ähnliches Ansageangebot bietet, wie eine bessere Fluglinie. Zwar keine Sicherheitstipps und Ratschläge zum Anlegen von Schwimmwesten, aber doch die Erinnerung an nicht vergessen werden wollende Schirme und der mit auf den Weg gegebene Wunsch, einen erfolgreichen Tag mit einer angenehmen Fahrt auf den Wiener Linien. Auch er ist mittlerweile eine bekannte Größe, eine Stimme, die längste in Gesicht hat. K. dagegen, K kennen nicht viele persönlich. Von diversen Warteschleifen schon. Zum Beispiel von der des Wiener Flughafens. Oder bei irgendwelchen Versicherungen. Und einem Nahrungsmittelkonzern. K war eine Zeit lang am Sprung zu echtem Ruhm. Und ich kenne ihn. Persönlich. Er saß ein Zeit lange in einem Büro neben mir. Und auch wenn ich seit meinem vierten Lebensjahr zu akzeptieren gelernt habe, dass die Menschen im Radio nicht in der kleinen Kiste wohnen, ist es doch seltsam, jemandem minutenlang dabei zuzuhören, wie er einem gratuliert, irgendwo angerufen zu haben und sich freut, einen in der Warteschlange unterhalten zu dürfen, während der Besitzer der Stimme im Raum ist. “Bitte legen Sie nicht auf”, sagt K -in mein Ohr, während er selbst gerade das Telephon auflegt. “Bitte haben Sie etwas Geduld” flüsterte er in mein Ohr - und schmeißt sein Tschickpackerl an die Wand, weil seine Freundin nicht zurückruft. “Flughafen Wien”, wiederholt er links in drei Sprachen sonor --- und platzt mich rechts an “ob du mir während du in der depperten Warteschleife hängst nicht endlich die Nummer vom Flughafen verraten kannst.” Zweifel am Raum-Zeit-Kontinuum Besonders nett war es, wenn K sich - sozusagen - selbst angerufen hat. Mitunter hat er dann den Hörer neben das Telephon gelegt, das Telephon auf “Lautsprecher” geschaltet und sich selbst dafür beschimpft, dass er wider besseres Wissen versichere, ganz bestimmt “die nächste freie Leitung” zu bekommen. Irgendwie rüttelten dieses Dialoge ein wenig an meinem Verständnis für das Raum-Zeit-Kontinuum. Heute arbeitet K ganz woanders. Ich auch. Dass wir uns aus den Augen verloren haben ist nicht so schlimm. Aber langsam verschwindet K auch aus meinen Ohren. Irgendwer redet scheinbar derzeit vielen Firmen, die bisher K in ihrer Warteschleife hatten ein, dass Frauenstimmen oder Musik besser seien, als sonore Männerstimmen. Und dort, wo gesprochen wird, übernimmt eine andere Männerstimme immer öfter K.s Part. Vielleicht sollte ich K. einmal anrufen. Nur so. Um seine Stimme zu hören.