Mit Russlands Wirtschaft ist etwas Er-staunliches passiert. Im August 1998 hatte das Land einen Finanzkollaps erlebt, Schatzscheine wurden nicht mehr eingelöst und die Börsenkurse fielen 94 Prozent unter ihren Höchststand vom Oktober 1997. Der Rubel wurde auf ein Viertel seiner früheren Notierung abgewertet. Die Hälfte der russischen Banken musste schließen, viele Menschen verloren ihre Spareinlagen. Der Lebensstandard sank um dreißig Prozent. Die Inflationsrate schnellte auf 38 Prozent pro Monat hinauf, die industrielle Produktion schrumpfte um 15 Prozent.

Russland schien wirtschaftlich im freien Fall zu sein. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) sank um fünf Prozent, für 1999 prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) neun Prozent Rückgang.

Nun sieht alles anders aus. Russland ist am Wendepunkt angelangt. Die industrielle Produktion hat sich Monat für Monat erholt, sie wuchs im Mai um 6,1 Prozent, im Durchschnitt kann man dabei für 1999 mit einer fünfprozentigen Wachstumsrate rechnen. Davon wird das BIP kaum profitieren, da viele Dienstleistungen gemeinsam mit der Inlandsnachfrage abnehmen. Obwohl die russischen Statistiken nicht sehr verlässlich sind, ist der Umschwung doch zu groß, um noch angezweifelt werden zu können.

Positive Abwertung

Der offensichtlichste Grund dafür ist die Abwertung des Rubel, der die Importe augenblicklich um 50 Prozent zurückgehen ließ. Die Exporte wurden billiger, die Ölpreise stiegen. Das stärkste Wachstum ist in folgenden Branchen festzustellen: Chemie, Papier, Baustoffe, Glas und Porzellan, Mikrobiologie, Pharmaindustrie, Maschinenbau und die Bekleidungsindustrie.

Die Auswirkungen sind in den Straßen Moskaus nicht zu übersehen. Überall sind inländische Qualitätsprodukte im Angebot, nachdem Moskau achtzig Prozent aller Konsumgüter eingeführt hatte. Neben den zahlreichen Nobelrestaurants öffnen noch mehr preisgünstige Lokale ihre Pforten. Die Unternehmer sind gezwungen, alle Marktnischen, nicht nur die exklusiven der Reichen, auszufüllen.

Viel wurde über die russische Wirtschaft geschrieben, die zu einem Tauschhandelsplatz degenerierte. Seit August 1998 hat sich das Blatt gewendet. Der Anteil des Tauschhandels an den Geschäftstransaktionen fiel auf 54 Prozent, im Jänner auf 46 Prozent und liegt nun teilweise unter 40 Prozent. Im Dezember 1998 hat der halbstaatliche Energiegigant EES Rossii (Vereinigtes Energiesystem Russlands), geleitet vom Privatisierungs-Zar Anatoli Tschubais, 20 Prozent aller Einkünfte in bar kassiert, im Mai waren es bereits 32 Prozent. Die Russen haben das Geld als Zahlungsmittel wieder entdeckt, die virtuelle Wirtschaft ist im Verschwinden begriffen.

Gehaltsauszahlung

Auch die berühmt berüchtigten Zahlungsrückstände der Firmen untereinander gehen rasch zurück. Große Unternehmen zahlen ihre Steuern neuerdings mit Geld- statt mit dubiosen Schuldscheinen. Löhne und Gehälter werden seit Oktober 1998 wieder ausgezahlt. Wer schlecht wirtschaftet muss erfolgreichen Unternehmen Platz machen. Die Zahl der Konkurse ist innerhalb von einem Jahr zwar drastisch gestiegen, die der aktiven Unternehmen aber noch mehr. Wer radikal modernisiert, hat die Nase vorne.

Beweise gibt es genug. Es findet ein qualitativer Durchbruch statt, nicht bloß ein kurzes Aufatmen wegen der Abwertung und der steigenden Ölpreise. Der Finanzkrach hat in der russischen Wirtschaft zu einem gründlichen Umdenken geführt. Die Krise hat endlich gezeigt, wie wichtig Sparpolitik ist, die Härte der Krise hat alle überzeugt, dass es nichts mehr umsonst gibt und die Unternehmen auf sich selbst gestellt sind.

Investoren aus dem Ausland, die 1997 Kapital in der Höhe von zehn Prozent des BIP ins Land gebracht hatten, wurden verscheucht. Mit dem Krach bei den inländischen Schatzscheinen schwand auch das Interesse an Staatsanleihen. Es gab keine Möglichkeit, die Steuern und damit die Staatseinnahmen wesentlich zu erhöhen. Daher stricht die Regierung in diesem Jahr die öffentlichen Ausgaben um fünf Prozent des BIP. Zu guter Letzt löste die Bankenpleite das Problem leichtsinniger Kreditvergabe.

Neues Profitdenken

Russische Unternehmer haben zur Kenntnis genommen, dass die Ware, die sie auf den Markt bringen, mit Profit verkauft werden muss. Russlands Problem war nicht im Mangel an Nachfrage und Krediten begründet, sondern, ganz im Gegenteil, im Fehlen von Nachfragebeschränkungen.

Das russische Bankensystem erwies sich weniger nützlich als schädlich. Seit die am schlechtesten geführten Banken schließen mussten, funktioniert das Zahlungssystem besser als erwartet. Banken genossen weder das Vertrauen für größere Depositen noch verfügten sie über das Fachwissen und die für eine seriöse Kreditpolitik notwendigen Informationen. Die meisten Pleiten sind auf Fahrlässigkeit zurückzuführen, doch ein wichtiger Aspekt war, dass die unverschämtesten Gauner ihren Laden dicht machen mussten.

Die internationalen Finanzinstitutionen scheinen in den vergangenen Jahren mehr moralische Fallen aufgestellt als wirksame Bedingungen verlangt zu haben. Klugerweise haben sie sich nun auf das Management von Auslandsschulden und die Refinanzierung der Riesenkredite beschränkt.

Die Regierung verhielt sich bemerkenswert passiv. Das Beste, was man über sie sagen kann ist, dass sie die politische Ruhe in einem Land bewahrte, in dem der Lebensstandard gefallen war wie nie zuvor. Die Zahl der Armen hat sich verdoppelt, die Arbeitslosigkeit stieg offiziell auf 14 Prozent. Am stärksten wurden durch den Crash die neue obere Mittelschicht getroffen, die drastische Einkommenseinbußen hinnehmen mussten. Die Regierung versuchte, die Preis- und Währungskontrolle aus kommunistischen Zeiten zu reaktivieren - doch ohne Erfolg. Die Passivität der Regierung unterstrich die Realität der leeren Staatskassen.

Heilsame Krisen

Ironischerweise bewirkte der finanzielle Zusammenbruch unter der Ägide der Kommunisten eine Schocktherapie, wie sie den Reformpolitikern zuvor nicht gelungen ist. Polen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwei Finanzkrisen überstanden, die rückblickend die Voraussetzungen für spätere Erfolge schufen. Das Gefühl der Erniedrigung hat in Russland zu einer neuen Ernsthaftigkeit und zu langfristigem Planen geführt, die für einen echten Umschwung notwendig sind. Hoffen wir, zum Wohle Russlands, dass er nicht wieder im exzessiven ausländischen Kapitalzufluss untergeht.

Anders Aslund ist Lehrbeauftragter der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden (Washington und Moskau) und ein früherer Berater der Regierung Boris Jelzins in Wirtschaftsfragen.
© Project Syndicate, Prag 1999