Die starke Mobilisierung der Bevölkerung am "Aktionstag" in ganz Frankreich zeigt, wie brisant das Thema Alterspension landesweit ist - und wie hart der Widerstand gegen eine liberale Rentenreform sein dürfte. Zwischen 200.000 und 400.000 Demonstranten legten am Donnerstag weite Teile des französischen Verkehrssystems lahm. In Paris und allen größeren Provinzstädten kam es zu Massenkundgebungen und Streiks gegen die Pläne der Arbeitgeber, die Zahl der Beitragsjahre für eine Vollpension von 40 auf 45 Jahre zu erhöhen. Diese Forderung des Unternehmerdachverbandes Medef würde faktisch zu einer Erhöhung des Pensionsalters führen, das die Sozialisten nach ihrem Wahltriumph 1981 auf 60 Jahre gesenkt haben. Die Linksregierung hielt sich zwar auf Distanz, doch hatten Kabinettsmitglieder den Patrons zuvor "Erpressung" vorgeworfen: Medef-Präsident Ernest-Antoine de Seilli`ere will keine Beiträge mehr an die Sozialversicherung zahlen, wenn die Regierung keine Rentenreform in ihrem Sinn beschließt. Die Unternehmerschaft verlangt die Verlängerung der Erwerbszeit wegen der zunehmenden Überalterung. Mehrere Studien sagen einer nicht reformierten französischen Sozialversicherung ab 2020 ein Defizit von mindestens 58 Milliarden Euro (798 Mrd. S) voraus. Premierminister Lionel Jospin behauptet hingegen, die aktuellen Rückstellungen genügten, um die Pensionen auf Jahrzehnte hinaus zu sichern. So sicher sich der Medef in der Sache ist, so ungeschickt geht er taktisch vor. Der Streiktag isolierte ihn und machte klar, dass in Frankreich derzeit wohl keine tief greifende Rentenreform möglich ist. Jospin, der vor den anstehenden Gemeinde-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen keine unpopulären Rentenmaßnahmen ergreifen will, verbirgt hingegen elegant, dass er in der Rentenfrage ziemlich macht- und tatenlos ist. Die Rechtsopposition schlachtet dies allerdings vor den Wahlen auch kaum aus, zumal sie in der Rentenreform ein gebranntes Kind ist: Der gaullistische Premier Alain Juppé war 1995 ob der Rentenfrage gestürzt. (DER STANDARD; Printausgabe, 27.28.1.2001)