Es entbehrt für den Kenner der politischen Geschichte Österreichs nicht einer gewissen Pikanterie und Ironie, dass es die ÖVP ist, die für ein Karenzgeld für alle eintritt, ja zur Bedingung einer künftigen Koalition machen will, während die SPÖ einer Differenzierung je nach Bedürftigkeit das Wort redet.

Ein Blick in die Vergangenheit lehrt, dass es in der Ersten Republik und im Roten Wien umgekehrt war. Damals befürworteten die Sozialdemokratie und ihr Gesundheitsstadtrat Professor Julius Tandler das Säuglings-Wäschepaket für alle, unabhängig von den Einkommensverhältnissen der Eltern. Man argumentierte damals, dass man damit die Sorgepflicht der Gemeinschaft für alle betonen und die Zuwendung nicht als Almosen, das man nur den Armen zukommen lassen wolle und sie damit diskriminiere, deklarieren wolle.

Rollentausch SP-VP

Jahrzehnte später scheinen sich die Rollen vertauscht zu haben. Die SPÖ lässt das Argument, das sie sich einmal zu Eigen gemacht hat, heute nicht mehr gelten, die ÖVP stört es nicht, ein ehemals sozialdemokratisches Konzept zu übernehmen und auf einen anderen Bereich zu übertragen. Kann man daraus schließen, dass die SPÖ ihre früheren Prinzipien verraten hat oder dass sie deshalb die modernere Partei ist, weil sie nicht an überholten Prinzipien festhält? Und kann man für die ÖVP von heute daraus schließen, dass sie die bessere Sozialdemokratie ist und dazugelernt hat?

Für beide Versionen ließen sich Argumente anführen. Was an diesem Beispiel aber jedenfalls deutlich zu machen ist, ist die Tatsache, dass sich die Parteien gewandelt und inhaltlich die Seiten gewechselt haben, ja dass sie inhaltlich schwer voneinander abzugrenzen sind, in vieler Hinsicht austauschbar geworden und für Überraschungen gut sind, wenn es ihnen aus irgend welchen kurzfristigen Überlegungen opportun erscheint.

Das Beispiel illustriert, dass die Parteien nicht mehr nur, ja nicht einmal in erster Linie nach ihren Programmen und Inhalten, sondern nach den sie repräsentierenden Persönlichkeiten und deren Durchschlagskraft, aber auch nach dem funktionellen Stellenwert im Parteiengefüge insgesamt zu beurteilen sind.

Das ist auch für den Wähler von Bedeutung, weil er bei seiner Entscheidung nicht nur darauf achten muss, welche Inhalte die Parteien anbieten, sondern mindestens ebenso sehr berücksichtigen muss, ob sie für einen Wandel oder für die Fortführung des Bestehenden stehen. Wer die bestehenden Zustände unter den Vorzeichen der großen Koalition trotz aller gegen sie vorgebrachten Bedenken für gut oder wenigstens für das kleinere Übel hält, muss eine der Regierungsparteien wählen. Wer eine Dynamisierung des Regierungssystems und eine Ablösung für sinnvoll hält, muss, auch wenn er sich keine Wunderdinge davon erwartet, einer der Oppositionsparteien seine Stimme geben.

Der Politikwissenschafter Prof. Norbert Leser lehrt Gesellschaftsphilosophie an der Universität Wien.