Wien - "Nach den Erfolgen in der zweiten Republik haben wir die Wende gebraucht wie eine doppelseitige Lungenentzündung", kann sich der ehemaligen Finanzminister und heutige Industrielle Hannes Androsch mit der schwarz-blauen Koalitionsregierung nicht recht anfreunden. Ein System in der Regierungsarbeit kann er nicht erkennen. Die Budgetpolitik sei durch "eine Flut von zum Teil verrückten Steuererhöhungen sowie durch Einmaleffekte, wie das Verschleudern der Bundesforste" gekennzeichnet. Eine vernünftige Arbeit sei aber auch gar nicht möglich gewesen, da die FPÖ in einem Jahr ihre halbe Regierungsmannschaft ausgetauscht habe. Weder in der Verkehrs-, noch in der Energie- oder der Bildungspolitik sei in den letzten zwölf Monaten etwas weitergegangen.´"Mehr Professionalität und Abstimmung" "Das Fitnessprogramm für den Standort Österreich hat begonnen, jetzt geht es darum, das Programm konsequent fortzusetzen", bilanzierte Peter Mitterbauer, Mehrheitseigentümer und Vorstandsvorsitzender des Autozulieferers Miba. Mitterbauer, der auch Präsident der Industriellenvereinigung (IV) ist, urgiert insbesondere Lösungen zur Behebung des Facharbeitermangels und plädiert für mehr Großzügigkeit beim Zuzug von Spezialisten aus den EU-Kandidatenstaaten. Mehr Professionalität und Abstimmung in der Regierung hätte sich Mitterbauer beispielsweise in der Frage der Uni-Reform gewünscht. Überwiegend fällt seine Bilanz der Regierungsarbeit aber positiv aus. Der Reformstau sei aufgelöst, der Grundstein für die Budgetkonsolidierung gelegt, die Sanktionen der EU seien überwunden und weitere Vorhaben wie die Verwaltungsreform auf Schiene gebracht, sagte Mitterbauer. Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl glaubt, in der Wirtschaftspolitik sei nach Jahren der Stagnation vieles in Bewegung gekommen, beim Bürokratieabbau aber hätte im ersten Jahr "mehr passieren können." Machtstrukturen gebrochen Claus J. Raidl, der Chef des österreichisch- schwedischen Edelstahlkonzerns Böhler-Uddeholm sieht nach einem Jahr neuer Regierung die Situation sehr differenziert. Auf der Plusseite figuriert für ihn nach wie vor, dass "die alten Machtstrukturen gebrochen wurden, weil neue Menschen in die Regierung eingetreten sind." Weiter zu den Pluspunkten zählt das "Ende des Vetorechts" der Sozialpartner. Positiv sei auch das Nulldefizit "ein sehr gut verständliches und erreichbares Ziel. Auf der Minusseite rangiert für Raidl, "dass es nicht gelungen ist, die Steuer- und Abgabenquote zu senken. Defizite gebe es bei der Streichung der Wohnbauförderung. Die Familienpolitik müsse auf "das Maß vor dem Familienpaket redimensioniert werden". In der Bundesstaatsreform sollte eine Ebene, am besten die Bezirke, durch Fusion mit Gemeinden oder Ländern verschwinden." Der Chef des Papierkonzerns Frantschach, Veit Sorger, der sich vor einem Jahr vehement für schwarz-blau ausgesprochen hat, ist auch heute "froh, dass diese Chance aufgegriffen wurde". Von der Konzeption und den Zielen sei die Regierung ganz in Ordnung, bei der Umsetzung könne man sich in einem Jahr keine Wunder erwarten. Enttäuscht ist Sorger über die mangelnden Fortschritte in der Bildungs- und Forschungspolitik und der Infrastruktur. Sein Hauptanliegen: "Es muss zu einer massiven Steuerreform kommen." Helmut Peter, Rösslwirt und Präsident der Österreichischen Hoteliervereinigung spricht davon, dass die Sanktionen gegen schwarz/ blau sehr wohl eine "schmerzhafte Beeinträchtigung für das Tourismusgeschäft dargestellt haben." Trotz hohem Wirtschaftswachstum und weltweit steigendem Tourismus, habe man allein im August 2000 ein 10,6-prozentiges Minus verschmerzen müssen. Derzeit hält Peter die steuerliche Entwicklung für bedrohlich und kreidet der Regierung an, dass auch bei der Entlastung der Lohnnebenkosten nichts passiere. (red, DER STANDARD, Printausgabe 3.2.2001)