Wien - "Jetzt sitzen wir im Glashaus. Vor einem Jahr sind wird noch durch den Tunnel zur Angelobung gegangen." Ein hochrangiger ÖVP-Politiker, der sich selbst gerne als Architekt der schwarz-blauen Koalition sieht, verwendete in einem der Hintergrundgespräche, zu denen Medienschaffende zum Jahrestag der Wende eingeladen werden, diese Metapher, um die neue Situation zu beschreiben. Das Glashaus war in diesem Fall der Wintergarten eines Nobelhotels in der Wiener Innenstadt. Mag sein, dass der hochrangige Wendepolitiker bei seiner Bemerkung nicht bedacht hat, dass es vom Glashaus bis zum Steinewerfen nur eine kurze Assoziationsstrecke ist. Sie endet meist im Grübeln darüber, wie Glashaussitzende durch eigenes Verhalten in zwiespältige Situationen geraten. Die Rückschau auf die Wende, insbesondere deren Beginn, hat nach einem Jahr zu unterschiedlichsten Interpretationen geführt. Je nach Position der Betrachter werden dabei die zeitgeschichtlichen Vorgänge in das jeweils genehme Bild gerückt. Denn die "Schuld an der Wende" schieben sich eigenartigerweise die einstigen Koalitionäre SPÖ und ÖVP nach wie vor zu. Das ist insofern befremdlich, da man zumindest von der ÖVP als einem wesentlichen Teil des Wendevollzugs eine aktiv-positive Beurteilung der Anfänge erwartet hätte. Zwiespältig ist aber nicht nur die Wahrnehmung der eigenen Rolle der Akteure beim Wendebeginn. Der Zwiespalt zieht sich wie ein roter Faden durch das politische Geschehen der vergangenen 365 Tage. Am deutlichsten wird dies in der Diskussion über die Konfliktdemokratie. Keine Regierung der Zweiten Republik wurde mit so viel Ablehnung empfangen. "Widerstand" wurde zum selbsterklärenden Wort für fundamentale Gegnerschaft zu Schwarz- Blau. Er dauert an, auch wenn nicht mehr Hunderttausende auf die Straße gehen. Der Widerstand ist gesickert und hat sich auf eine spezielle Art verfestigt. Das bedeutet gleichzeitig, dass er bei gegebenen Anlässen - zuletzt bei der Auseinandersetzung um den Präsidenten des Hauptverbandes der Sozialversicherungsanstalten, Hans Sallmutter - aktiviert wird. Denn dahinter liegt mehr als der bloße Streit um einen unliebsamen politischen Funktionsträger. Es geht um den Umbau des Systems, wie sich auch am blauen Take-over in der ÖIAG zeigt. Viele vermuten einen Umbau in Richtung Illiberalität und führen als Beleg den Umgang mit Opposition und Justiz an. Hier ragen zwei Ereignisse des Wendejahres hervor. Zum einen war es die Tatsache, dass der freiheitliche Justizminister Dieter Böhmdorfer eine gute Weile gebraucht hat, um die Idee seines einfachen Parteifreundes abzulehnen, der Oppositionelle, die im Ausland die Regierung kritisieren, einsperren wollte. Ein unfassbarer Vorgang, der in anderen Ländern zu einem massiven öffentlichen Aufschrei und letztendlich zum Rücktritt des Ministers geführt hätte. Zu einem solchen wäre es auch gekommen, wenn ein Justizminister seinen Altparteiobmann in einem laufenden Verfahren von vornherein für absolut unschuldig erklärt hätte. Als dann noch die Vizekanzlerin die Einstellung des Verfahrens gegen ihre Parteikameraden im Spitzelskandal verlangt hat, hat sich selbst die für ihre Zurückhaltung bekannte österreichische Richterschaft widerständlerisch betätigt und sich gegen Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz verwahrt. Eine nachhaltige Klimaänderung beziehungsweise die neue politische Kultur in Österreich zeigte sich auch im Verhältnis Regierung/Sozialpartner. Statt wie bisher auf die institutionalisierten Gespräche auf Sozialpartnerebene zu setzen, greifen ÖVP und FPÖ auf Experten zurück. Aufgrund derer Berichte wurden z. B. die Maßnahmen zur "sozialen Treffsicherheit" durchgesetzt. Die beschlossene Pensionsreform (Anhebung des Frühpensionsalters um eineinhalb Jahre für Männer von 60 auf 61,5 Jahre, für Frauen von 55 auf 56,5 Jahre, Abschaffung der Frühpension aufgrund geminderter Erwerbsfähigkeit) und das Sparpaket provozierten Warnstreiks und Straßenblockaden. Frauenpolitik findet derzeit primär als Familienpolitik statt. Vor allem das kostspielige Prestigeobjekt Kindergeld sorgt immer wieder für Differenzen, selbst in der Koalition. Die ÖVP und einige Überläufer aus der FPÖ (etwa Finanzminister Karl-Heinz Grasser) sind für Zuverdienstgrenzen, das Gros der Freiheitlichen (darunter Sozialminister Herbert Haupt) ist aber dagegen. Die Entschädigung von NS- Zwangsarbeitern und Arisierungsopfern steht uneingeschränkt als Erfolg auf der Habenseite der Wenderegierung. Was mehr als fünfzig Jahre verschleppt wurde, haben ÖVP und FPÖ auf ihrer Aufgabenliste als erledigt abgehakt - sichtlich stolz. (DerStandard, Print-Ausgabe, 3.2.2001)