Personen, deren Konten, Versicherungspolizzen oder Kunstwerke von den Nazis beschlagnahmt worden sind, sollten zweifellos Klage einreichen. Wenn jedoch in der Folge der Holocaust immer mehr mit diesen Klagen in Verbindung gebracht wird, anstatt mit dem unglaublichen Leid von sechs Millionen Juden einschließlich eineinhalb Millionen Kinder, die einzig und allein deswegen ermordet wurden, weil sie Juden waren, dann ist etwas schief gelaufen.

In Verbindung mit den Holocaust-Klagen hat sich eine neue von Anwälten und verschiedensten Institutionen angeführte Industrie herausgebildet, die laut eigenen Aussagen versucht, "Gerechtigkeit" für die Holocaust-Opfer zu erlangen. Ich, der ich selbst den Holocaust überlebt habe, frage mich, für wen sie sprechen und wie sie "Gerechtigkeit" definieren. Bei jeglicher Beschäftigung mit dieser Zeit müssen die Aufdeckung der Wahrheit, die Aufarbeitung und Akzeptanz der Geschehnisse im Vordergrund stehen.

Anwälte haben eine Zivilklage gegen das Unternehmen Ford eingebracht, in der es beschuldigt wird, mittels seiner deutschen Filialen das Nazi-Regime unterstützt sowie Zwangsarbeiter beschäftigt und dadurch immense Gewinne erzielt zu haben. Wie in einem demnächst erscheinenden Buch beschrieben, liegen ähnliche Klagen gegen General Motors vor.

Diese beiden amerikanischen Automobilgiganten hatten bereits vor dem Krieg Firmenanlagen in Deutschland gegründet und diese auch dann noch betrieben, als die USA bereits in den Krieg eingetreten waren. Was sie den Juden auf Heller und Pfennig genau schulden, ist noch unklar, sicher hingegen ist, dass sie ihnen die Wahrheit schulden. Man kann die gegenwärtigen Firmenchefs nicht für das verantwortliche machen, was während des Nazi-Regimes passierte, wohl aber für die Aktionen, die sie nun in Anbetracht ihrer Vergangenheit setzen.

Sie müssen sich schonungslos, ehrlich und freiwillig mit den damaligen Geschehnissen konfrontieren, indem sie ihre Archive zugänglich machen. Restitutionsforderungen zu stellen ist wichtig, aber die Frage ist, zu welchem Preis?

Fehlende Einsicht

In der Schweiz sieht es nun so aus, dass die betroffenen Personen zwar einen Scheck erhielten, die Moral, die Aussöhnung sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit jedoch völlig auf der Strecke blieben. Die Schweizer müssen erst zu der Einsicht gelangen, dass ihre eigene Geschichte und nicht das jüdische Volk ihr Feind ist und dass die Lösung der Gold-Frage keineswegs Erpressung war, sondern eine moralische Schuld, die sie hätten freiwillig begleichen sollen.

Was mir persönlich solche Sorgen bereitet, ist dieses unbändige Streben nach Restitutionen unter völliger Außerachtlassung der Konsequenzen. Eine ausgedehnte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könnte dem jüdischen Volk, der Geschichte und der Erinnerung an diese Zeit viel bringen. Wir müssen einfach begreifen, dass es keine absolute Gerechtigkeit gibt. Von den Schweizer Banken konnte diese schon deswegen nicht gefordert werden, weil wir nicht einfach hergehen und das Leben eines Kindes, das an der Schweizer Grenze abgewiesen wurde, weil es ein "J" in seinem Pass hatte, mit einem Preis versehen können. Wir können nur auf ein gewisses Maß an Gerechtigkeit hoffen, auf eine symbolische Gerechtigkeit, die Rechenschaft und Verantwortlichkeit widerspiegelt.

Seit der Einigung in der Schweiz ist eine regelrechte Flut von Klagen ausgebrochen. Einige Anwälte sehen darin die Chance ihres Lebens und einige Politiker erachten es als Möglichkeit, die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung in ihrem Land zu gewinnen. Die 1,25-Milliarden-Dollar-Einigung in der Schweiz wäre ohne den entschlossenen Einsatz von Anwälten und Politikern, die zum Teil pro bono arbeiteten, einfach weil sie der Überzeugung waren, für die richtige Sache einzutreten, nicht möglich gewesen.

Ich will jedoch vermeiden, dass Holocaust-Opfer zum politischen Spielball oder zur Möglichkeit persönlicher Bereicherung werden. Ed Fagan, der im Falle der Schweiz zu den führenden Anwälten zählte, reist nun auf der Suche nach neuen Klienten um die ganze Welt. In Polen meinte er, "wenn Hitler auf seinen Raubzügen quer durch Europa von Westen nach Osten gezogen ist, so mache ich mich von Osten nach Westen auf den Weg, um die Verluste einzuklagen". Es gibt für solche Trittbrettfahrer keinen Platz in diesem ernsten und heiligen Unterfangen.

Die Auszahlung der von Banken und anderen Institutionen eingerichteten Fonds ist zum regelrechten Tauziehen zwischen rivalisierenden Gruppierungen und Anwälten geworden. Zu allererst einmal glaube ich, dass all jene, die berechtigte Forderungen haben, Zahlungen erhalten sollen. Überlebende des Holocaust, die keine speziellen Forderungen stellen können, sollen in die Fonds miteingeschlossen werden. Nachdem die anstehenden Ansprüche befriedigt sowie die armen hauptsächlich in Osteuropa ansässigen Überlebenden versorgt worden sind, schlage ich vor, den Rest der Gelder an Israel weiterzugeben. Diese Vorgehensweise würde nicht nur eine bedeutsame Geste darstellen, sie wäre außerdem sinnvoll, da sich die meisten hilfsbedürftigen Überlebenden des Holocaust in Israel befinden. In Israel leben anteilsmäßig mehr Kinder oder Enkel von Überlebenden als in jedem anderen Land.

Entweihung der Opfer

Ich befürchte, diese ständigen Diskussionen um Holocaust-Restitutionen verzerren das Bild des Holocausts derart, dass das letzte Wort darüber lauten würde, die Juden seien nicht ermordet wurden, weil sie Juden waren, sondern weil sie Bankkonten, Gold, Kunstwerke und anderes Eigentum hatten. Wenn man dies nur oft genug wiederholt, so prägt es sich als "Tatsache" ein, dass die Juden getötet wurden, weil sie Geld besaßen. Für mich persönlich stellt das eine Entweihung der Opfer sowie eine totale Verdrehung dar, weshalb die Nazis eigentlich eine "Endlösung" angestrebt haben. Und daher ist es ein viel zu hoher Preis für eine Gerechtigkeit, die wir niemals erlangen können.

Auf einer Reise nach Deutschland wurde ich gefragt, ob ich es nicht endlich für an der Zeit hielte, die Holocaust-Ära ruhen zu lassen. Meine Antwort darauf war, dass es kein Ende geben könne. Wir schulden es der Geschichte und den sechs Millionen Opfern, dass wir die nachfolgenden Generationen über den Holocaust aufklären. Diese Aufklärung wird jedoch gemindert und verzerrt, wenn man Geld über Moral stellt.
Abraham H. Foxman ist Direktor der Anti-Defamation League (ADL), einer 1913 in den USA gegründeten führenden Bürgerrechts-Organisation. Die 40 Büros weltweit bieten erzieherische Programme zum Abbau von Vorurteilen, Antisemitismus und Xenophobie.