Washington - Bösestes Blut unter US-Anthropologen macht ein Buch, das an einem der Großen des Feldes die Problematik des Erkundens anderer Kulturen thematisiert: "Darkness in El Dorado: How Scientists and Journalists Devastated the Amazon" . Darin erhebt der Anthropologe und Journalist Patrick Tierney schwere Vorwürfe gegen den Anthropologen Napoleon Chagnon: Er habe in den 60er-Jahren unter den Yanomami-Indianern Amazoniens ein Massensterben durch Masern ausgelöst. Und er habe durch seine Forschungspraktiken die Sozialstruktur der Indigenen so durcheinander gebracht, dass sie mit Waffen übereinander herfielen. Chagnon ist so renommiert wie umstritten, seit er 1968 ein Buch publizierte ("The Fierce People"), in dem die Yanomami als blutrünstiges Volk dargestellt wurden, bei dem die größten Mörder von den Frauen bevorzugt werden. Das ist im Detail wie im Ganzen strittig und hat den "Soziobiologen-Krieg" ausgelöst, in dem es um Einflüsse der Gene auf das Verhalten geht. Aber es blieb nicht bei akademischen Geplänkeln: Als Ende der 80er-Jahre Goldsucher in Yanomami-Gebiet eindrangen und Bewohner niedermetzelten, verweigerten die Militärbehörden den Bedrohten jeden Schutz und beriefen sich auf den "wissenschaftlichen" Befund, dass diese Indigenen qua Wildheit nicht schützenswert seien. Dabei wollte Chagnon sie selbst schützen: 1967 nahm seine Expedition Blutproben von den Yanomami, im Auftrag des mitreisenden Genetikers James Neel. Der sollte im Auftrag der US-Atomenergie-Kommission Blut strahlenunbelasteter Indigener auftreiben, auf dass man es mit dem von Hiroshima-Opfern vergleiche und daraus US-Strahlengrenzwerte entwickle. Dabei zeigte sich als zufälliger Nebenbefund, dass die Yanomami keinerlei Antikörper gegen Masern hatten: Sie kannten die Krankheit nicht und wären extrem bedroht gewesen, wenn sie je zu ihnen gekommen wäre. Riskanter Impfstoff Deshalb kam Chagnon im Folgejahr mit Impfstoff wieder. Exakt dann brach eine Masern-Epidemie mit Hunderten Toten aus, möglicherweise eingeschleppt von den Forschern - oder Missionaren -, möglicherweise verschärft durch den - hoch riskanten - Impfstoff, der in den USA nicht mehr verwendet wurde. Ob dabei nur ein riesiges Chaos ausbrach oder ob es auch um Menschenversuche ging - Neel vertrat eugenische Ideen von der Überlegenheit der Naturvölker über verzärtelte Fortgeschrittene -, ist hoch umstritten, in jedem Fall suchte Neel wieder Blutproben. Aber sie gaben nicht einfach ihr Blut, und sie gaben auch Chagnon nicht einfach ihr Wissen - Yanomami sprechen ihre Namen und vor allem die verstorbener Verwandter nicht laut aus -, sie ließen sich beides abkaufen, mit Macheten und Äxten, vorher hatten sie Steinwerkzeug. Am Ende waren die Yanomami so hochgerüstet, dass sie zu Chagnons Bild wurden: wahrhafte "Fierce People". Ganze Dörfer zogen gegeneinander zu Felde. Das tun seit dem Vorjahr auch die US-Anthropologen. Das Buch erschien im November, aber schon zuvor - vor Bekanntwerden nur einer Zeile - brachen heftige Internet-Auseinandersetzungen in der heillos gespaltenen Zunft aus, die bis heute andauern. (jl, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 2. 2001).