Die Moskauer Zeitung "Segodnja" schreibt zum russischen Premier-Wechsel:

"Der Reformeifer der Regierungen ist mit jedem neuen Ministerpräsidenten ein bisschen geringer geworden und nun logischerweise bei Null angelangt. Wieder einmal gibt es bei uns, was in fortschrittlichen Ländern als eine Regierungskrise bezeichnet würde. Bei uns aber ist es nur eine gewöhnliche Rochade. Nichts ist mehr zu hören von Reformen, ja nicht einmal mehr von irgendeiner Treue zum Reformkurs. Es ist ja auch gar kein Kurs nötig, denn es wird nur Geld ohne baldige Rückzahlung gebraucht. Kredite gibt (der Westen) weiter, auch einem Geheimdienstler, wenn sich die Russen nur bitte nicht zusammen mit ihren Nachbarn in die Luft sprengen."

Die Tageszeitung "Wremja MN" (Moskau) sieht als Grund für die Entlassung des russische Kurzzeit-Premierministers Sergej Stepaschin dessen mangelnden Einsatz im politischen Kampf gegen die Gegner von Präsident Boris Jelzin:

"Erneut ist eine russische Regierung entlassen worden. Nach offizieller Darstellung geschah das, damit Präsident Boris Jelzin seinen Wunsch-Nachfolger vorstellen kann. Inoffiziell war der Grund aber, dass Sergej Stepaschin die Widersacher des Regimes (Jelzins) nicht hart genug bekämpft haben soll. Vermutlich wurde Stepaschin die Unfähigkeit vorgeworfen, die regionalen Verwaltungschefs unter Kontrolle zu halten, sowie mangelnder Eifer beim Kampf gegen den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow. Die wichtigste politische Priorität ist nicht die kontinuierliche Arbeit des Kabinetts, sondern die Bekämpfung des Gegners."

Die Moskauer Wirtschaftszeitung "Kommersant" sieht im designierten Ministerpräsidenten Wladimir Putin eine potenzielle Führungsfigur für ein autoritäres Regime in Russland:

"Von der Entlassung Stepaschins und der Berufung Putins ist eine härtere Innenpolitik zu erwarten. Im Kreml werden schon seit langer Zeit die härtesten Szenarien erörtert - bis hin zur Verhängung des Ausnahmezustands und der Absage der Präsidentenwahl. Nach Ansicht der Kreml-Strategen passt Putin viel besser als Stepaschin für die Rolle eines Diktators. Wenn man bedenkt, dass es für Putin äußerst schwierig sein wird, bei fairen und freien Wahlen zum Staatsoberhaupt gewählt zu werden, ist es durchaus wahrscheinlich, dass er zu einem ewig amtierenden kommissarischen Präsidenten nach der Einführung eines Ausnahmezustands wird - egal ob Jelzin vorzeitig zurücktritt oder seine volle Amtszeit erfüllt."

Die konservative Pariser Zeitung schreibt:

"In Moskau kursieren wieder Gerüchte. Man vermutet dahinter ein Manöver, das zur Verhängung des Ausnahmezustandes und zur Verschiebung der Wahlen führen könnte, wobei dann die Wirtschaftskrise oder der Krieg im Kaukasus den Vorwand lieferten. Die wahre Motivation bestünde aber darin, die Ermittlungen gegen Mitglieder des ,Präsidentenclans', die wegen verschiedener Finanzskandale beschuldigt werden, zu vertuschen. Wladimir Putin hat diese Befürchtungen nicht zerstreuen können, denn auch er kommt aus dem Geheimdienstapparat. Nach Primakow und Stepaschin wählt Boris Jelzin nun zum dritten Mal einen Verantwortlichen der Geheimdienste, um seine Interessen und die seines Clans zu schützen. Dieser Rückgriff auf alte sowjetische Rezepte ist kein gutes Zeichen."

Die linksliberale Zeitung aus Rom kommentiert:

"Schon einmal in der russischen Geschichte dieses Jahrhunderts waren die Regierungen so unsicher wie jetzt. Und zwar zwischen dem September 1915 und Februar 1917, als die Intrigen des Mönchs Rasputin und die ständigen Einmischungen der Zarin Nikolaus II. dazu brachten, vier Mal den Ministerpräsidenten zu wechseln. Boris Jelzin aber ist ein ,Rekordmann'. Wenn der Zar in eineinhalb Jahren vier Ministerpräsidenten hatte, dann waren es bei Jelzin im gleichen Zeitraum fünf: Tschernomyrdin, Kirienko, Primakow, Stepaschin und jetzt Putin. Mit einem Rekord im Rekord, aufgestellt von der Regierung Stepaschin. Sie blieb gerade mal 80 Tage im Amt, ungefähr so lange wie einst die so genannten Bade-Regierungen in Italien."

Das liberale britische Blatt schreibt:

"Es ist schwer zu sagen, ob die neueste politische Sensation aus Moskau ein Grund zum Lachen oder zum Weinen ist... Diese Episode zeigt einmal mehr, was für ein abnormaler Staat Russland ist, völlig unerprobt in der ordentlichen demokratischen Übertragung von konstitutioneller Macht. Und in der Zwischenzeit geht das Leben wie gewohnt weiter: eine gebeutelte Wirtschaft, ein Staat, der unfähig ist, auch nur die Grundversorgung sicher zu stellen, dazu ein drohender Krieg. Und das endlos leidende, endlos geduldige russische Volk - das geht seiner Wege und kümmert sich nicht um diese neue politische Farce."