Europa ignoriert Probleme der öffentlichen Gesundheit in Russland auf eigene Gefahr. Dasselbe gilt auch für andere Industrieländer, die dem Niedergang der Sowjetunion Beifall gespendet, es aber versäumt haben, auf den Zusammenbruch der russischen Gesundheits- und Sozialdienstleistungs- infrastruktur zu reagieren. Denn aus einem verworrenen Strudel ökonomischer Ideologie und oft unvernünftiger Ratschläge ist eine neue Form medikamentenresistenter Tuberkulose entstanden, die schwer unter Kontrolle zu bringen ist. In verschiedenen Regionen Russlands erkranken und sterben zehnmal mehr junge Männer als noch vor zehn Jahren. Zu dieser Entwicklung hat auch die vermehrte Kleinkriminalität und der damit zusammenhängende Anstieg von Inhaftierungen nach dem Zusammenbruch des sozialen Sicherheitsnetzes in Russland geführt. Tuberkulose hat innerhalb der russischen Gefängnisse epidemische Ausmaße erreicht. Einer von zehn Gefangenen leidet an der Krankheit. Wie andere sich durch die Luft ausbreitende Seuchen kann die gegen Arzneimittel resistente Tuberkulose weder durch Gefängnismauern noch durch Staatsgrenzen aufgehalten werden. Während die infizierenden Organismen mit Leichtigkeit die Grenzen überschreiten, werden Solidarität und Großzügigkeit für gewöhnlich am Zoll festgehalten. Bisher haben russische Gesundheitsspezialisten zwar jede Menge hochmütiger Ratschläge, aber nur wenig praktische Unterstützung von ihren Kollegen aus dem Ausland erhalten. Sinnloser Tadel Es hat wenig Sinn, die russischen Ärzte für ihr Versagen im Kampf gegen Tuberkulose zu tadeln, denn sie sind nicht verantwortlich für die drastischen Kürzungen im Gesundheitsbudget. Und diese Kürzungen aufgrund von "Kosteneffektivität" sind inmitten einer Epidemie wenig vernünftig. Wenn Ihr Haus in Flammen steht, entscheiden Sie sich etwa plötzlich dafür, Wasser zu rationieren? Nach einer langen Stille beginnen wir endlich damit, auf Argumente in Europa und Amerika zu hören, die dafür plädieren, die Gesundheitsfürsorge in Russland zu unterstützen. Einige dieser Argumente sind jedoch eigennützig. Wir lesen, es sei in unserem "aufgeklärten eigenen Interesse", der ehemaligen Sowjetunion im Kampf gegen diese Epidemie beizustehen. Einige politischen Führer bezeichnen die Tuberkulose gegenwärtig als ein Schlüsselproblem der nationalen Sicherheit. Dies ist allerdings eine Ansicht, die die Ärzte sowie die Beschäftigten des öffentlichen Gesundheitswesens in die Lage von Grenzbewachern bringt. Nur ein paar Mutige sprechen von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung. Ungeachtet der Rechtfertigung ist es erforderlich, dass Länder wie Nordamerika, die europäische Gemeinschaft, Skandinavien, Japan, Australien - in der Tat also alle die, die Anstrengungen machen, eine sinnlose, vermeidbare und verheerende Epidemie aufzuhalten - sich zusammenschließen, um all denen eine wirkliche Unterstützung angedeihen zu lassen, die sich um eine Bekämpfung der Tuberkulose in Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion bemühen. Die globale Gemeinschaft muss einer ganzen Anzahl von Prinzipien folgen, wenn sich diese Initiative als effektiv erweisen soll. Falsches Sparen Lasst uns als Erstes damit aufhören, der russischen Re- gierung zu raten, Geldaufwendungen für das Gesundheitswesen zu senken. Solche Kürzungen der Haushaltsmittel haben in Moskau oder Sverdlosk nicht mehr Sinn, als sie es beispielsweise in New York hätten, wo ein vergleichsweise geringfügiger Ausbruch von Tuberkulose, der seinen Ursprung in den Haftanstalten hatte, vor einem Jahrzehnt zu einem ganz erheblichen Zufluss von Geldmitteln führte. Heute stimmen alle darin überein, dass die Hunderte Millionen Dollar, die dazu verwendet wurden, eine Investition waren, die sich gelohnt hat. Zweitens sollten wir Russland dazu ermutigen, Fürsorgestandards einzuführen, die bereits in Europa und in anderen Industrieländern existieren. Drittens sollten wir unsere Ratschläge mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung für die Medikation, für geeignete Diagnosegeräte und für die Bekämpfung von Infektionen verknüpfen. Die Bereitwilligkeit der Wohlstandsgesellschaft, es mit dieser neuen Form der Tuberkulose aufzunehmen, wird unsere Verpflichtung zu einem neuen Internationalismus auf die Probe stellen. Dieser Internationalismus ist dringend notwendig, wenn wir diese und andere sich entwickelnde Seuchen aufhalten wollen. Und wir müssen schnell handeln, bevor die Ausbreitung von HIV in Russland dies zu einer noch dringenderen Aufgabe macht. Die Zeit ist knapp. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. 2. 2001).