Kunst und Kultur
Versuch über Thomas Bernhard
Ilse Aichinger: Journal des Verschwindens - Teil XV
"Eine große Kaverne hindert einen Sänger nicht, Jahre später in Bayreuth den Wotan zu singen", bemerkt Thomas Bernhard in Die Kälte. Eine Isolation.
Ich habe ein Bild in Erinnerung: Er steht aufrecht neben dem Flügel und schaut über seinen Begleiter hinweg. Keine Spur von Unruhe, Zweifel oder anderen der Stimme und der Haltung abträglichen Sperren. Er ist entschlossen. Aber wie er auf Bayreuth und dessen ganz andere Art von Wahnsinn kam?
Wahnfried heißt ein Etablissement des zerstrittenen Wagner-Clans, auch der Wahn ist dort etabliert. Wer die Gigantomanie von Bayreuth und seiner Architektur kennt, wundert sich nicht weiter über den Fanatismus, dem dort Vorschub geleistet wurde.
Wer Bernhards Höfe gesehen hat, die abweisenden und unerschütterlichen Mauern, hinter denen er sich verschanzte, findet keinen Weg zur Architektur von Bayreuth. Auch nicht zu Wotan. Sein Stil der Selbstinszenierung ließ kaum Konzessionen zu, nicht die geringste Nachgiebigkeit.
Mehr als zehn Jahre nach seinem Tod wirbelt seine "gleissende Genauigkeit" (Abendzeitung, 1984) den Staub hoch, der hier ("nur hier" würde er vermutlich bemerken) nach jeder Katastrophe etwas zu rasch kompakt wird und sich fast undurchdringlich auf Gebirgsketten, Parkbänke, Unterhaltungs- und Sterbeetablissements senkt.
"Naturgemäß" nennt er das. Und auch dieser verzweifelte Zynismus wurde wahllos übernommen. Naturgemäß I, Naturgemäß II, Naturgemäß III. - Man kann sich kaum davor retten. Wie vor seinen Texten, die erst auf den vierten bis fünften Blick die Kompliziertheit und Abgründigkeit freigeben, und damit auch ihre Unnachahmlichkeit.
Der Atem. Eine Entscheidung erklärt er herausfordernd, fast drohend. Seine Entscheidung heißt das, sein Atem, sein unverwechselbarer Atem. Das klingt hybrid, und das kann ihm auch kaum einer nachreden, so gern es viele möchten. Fast jedem wird rasch genug die Idee aus dem Kopf gejagt, die Existenz und ihre Unausweichlichkeit könnte eine Zumutung sein, jeder einzelne Atemzug ein absoluter Zwang. Gleich den Beginn der Existenz kann man als reflexartigen Versuch definieren, nicht sofort zu ersticken.
Thomas Bernhard nennt diesen ersten rücksichtslosen Reflex, auf den jeder angewiesen ist: Eine Entscheidung. Nur einem Todkranken mit einer fast unbegrenzten Überflutung von Einfällen und verzweifelten Siegeswünschen wird ein solcher Widerspruch abgenommen. Er hat sich zweifellos, auch berechtigt, für die eigene Existenz entschieden.
Aber die Möglichkeit, sich zweifellos und ebenso berechtigt dagegen zu wehren, wird unter den Tisch gekehrt. Gerade bei der Anarchie und ihren Spielarten wird außer Acht gelassen, dass jeder seine eigene finden sollte. Nicht "seinen eigenen Ton", der ist kaum zu haben, sondern seine eigene Möglichkeit, den Begriff der Existenz aus den Angeln zu heben, die halbwegs geölt sind.
"Ich denke, also bin ich" - das hat schon als es festgestellt wurde, kaum gereicht. Wer denkt und wie? Und ist derjenige, der "Ich" sagt, nachdem er nachgedacht hat, noch derselbe? Wenn er es ist, so spricht das gegen die Notwendigkeit seines Denkens. Wenn er es nicht ist, sollte man nach seiner Selbstdefinition fragen. Nicht nach der, die ihm eingetrichtert wurde, sondern nach ihrer Leichtigkeit und Offenheit.
Das sollte der bedenken, der nicht nur den Begriff "naturgemäß" von Bernhard übernehmen möchte. "Naturgemäß" ist vom plötzlichen Kindstod bis zu vernichtenden Diagnosen fast alles. Genialität hingegen ist wenig naturgemäß, Thomas Bernhard ist es schon gar nicht.
Mir scheint er eher ein Versuch der überbeanspruchten Natur zu sein, sich gegen sich selbst zu stellen, endlich mit sich aufzuräumen.
Unlängst sah ich Fotos von Thomas Bernhard. Er wirkte darauf sehr aufrecht, stattlich, fast drahtig. Von den wenigen Zusammtreffen mit ihm habe ich ihn anders in der Erinnerung: zugleich offener und listiger - listenreich wie Odysseus. Aber seine Weltmeere lagen, wenn er auch nahe dem Atlantik geboren wurde, doch zwischen Flachgau und Traungau.
Offenbar hatte er in den Jahren nach dem ersten Atemzug kaum jemanden, der ihm Glück wünschte. Ob er Glück hatte? (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 9.2.2001)