Die Sonnenfinsternis über Mitteleuropa scheint ideal zu unserem Kalendarium zu passen, denn die Jahre bis zur Jahrtausendwende begannen wir seit 1979 als Restzeit zu qualifizieren, als ein Gefälle, über das sich endgültig ein Schatten legt. Zum Schatten der Geschichte gesellt sich der Schatten auf die Erde hinzu, weshalb die Aufklärung auch nicht so umfassend zu sein scheint, um hier nicht Koinzidenzen, Relationen oder gar Anzeichen zu vermuten, die insgesamt dem Vokabular der Apokalypse entnommen, mit ihr zu spielen beabsichtigen, an alle möglichen Schauergeschichten zu erinnern, als wären Restzeit des Jahrtausends und Sonnenfinsternis die Realisierung alles Dunklen wie die Anspielungen in den Märchen von Wilhelm und Jakob Grimm. So verschärft selbst eine astronomisch simple Sonnenfinsternis den merkwürdigen Rechtfertigungsdruck eines nahen neuen Jahrtausends. Unter dessen Zwang verändert sich die Rhetorik zum Vorläufigen und begünstigt die Entrechtung der Lebenden vor einer neuen und anderen Zeit und Konstellation der Gestirne.

Politisches Omen am Himmel

Die Sonnenfinsternis, so wird immerhin getan, wird als Zäsur interpretiert, von der aus die Vorstellung verschiedener Wenden ihre Begründung erfährt. Immerhin hatte ja die Astronomie des 17. Jahrhunderts das Wort Revolution der Politik und Geschichte überlassen. Die Himmelskonstellationen galten stets als politisches Omen, nicht nur bei den Ägyptern oder den jonischen Philosophen, sondern selbst Goethe zeichnete in einer politischen Skizze auf seiner Reise nach Straßburg die Sonnenfinsternis über dem alten Reich und dem Kaiser und strahlendes Licht über Frankreich und Revolution.

Vielleicht war es schon irgendwo zu lesen, wahrscheinlich gibt es noch nicht versunkene Wissensinseln aus der Schulzeit, dass die Berechenbarkeit von Sonnenfinsternissen der Mathematiker Leonhard Euler im 18. Jahrhundert möglich machte. Auf seinen Tafeln schuf er ein System, das bis heute anwendbar ist, doch lag der Sinn nicht darin, diesbezügliche Ereignisse bestimmbar zu machen, sondern um das System der Himmelsmechanik als eine gewaltige Ordnung zu rekonstruieren, die erst ein modernes Weltbild ermöglichte. Es war gleichsam der Wendepunkt einer alten Theorie. Wenn Thales von Milet die erste Vorhersage einer Sonnenfinsternis machen konnte, fragwürdig ist bis heute seine Methode und die Kenntnis der Eklipsis der Laufbahn der Gestirne, so war dies nicht eine typische gelehrte Spielerei wie unsere riesigen Weltzeituhren gleichen Zeitraumes, sondern der Beginn der europäischen Geschichte einer Theorie.

Und mit einer Sonnenfinsternis endete auch der Bau klassisch-historischer Theorien, nämlich am 29. Mai 1919. Zwei britische Expeditionen waren ausgezogen - wie eben heute in Mitteleuropa -, um durch präzise Aufnahmen die These Einsteins nachzuweisen, dass die Lichtwege durch Masseneinwirkung gekrümmt werden.

Einstein war nicht erstaunt

Durch Photographie konnte die Versetzung der Sternörter am Rand der verdunkelten Sonne gemessen werden und entsprach der Vorhersage Einsteins, dass die Krümmung 1,7 Bogensekunden betragen werde. Das Erstaunliche dieses Nachweises einer Hypothese war, dass Einstein nicht erstaunt war. Warum hätte er auch erstaunt sein sollen, denn Gott rechnet ebenso gut wie der Gelehrte, zumindest war es eine Annahme Decartes, der diese Meinung hatte: Deus calculat, fit mundus. Diese Auffassung ließ Einstein auch gegen Max Born polemisieren, dass naturwissenschaftliche Systeme nicht durch beharrliches Würfeln zustande gekommen sind.

Was aber uns wundern sollte, ist nicht der Umstand der Präzision einer Theorie, sondern dass der Gelehrte über den rein zufälligen Bezug zwischen kosmologischer Theorie und photographischer Technik nicht überrascht war. Es hätte genau so gut noch Jahrzehnte dauern können, um diese Aussage nachzuweisen und zeigt indirekt die Problematik wissenschaftlichen Fortschritts an: Sie besteht eben nicht in einer qualitativen Synchronisation verschiedener Wissensbereiche und Techniken. Weit öfter herrscht doch zwischen Theoretikern und Technikern jenes Misstrauen, das den einen Mangel an Praxis und den anderen Mangel an theoretischer Kenntnis vorwirft. So war die Sonnenfinsternis von 1919 ein Weltgeistmirakel, denn zufällig trat die Koinzidenz zwischen Relativitätstheorie, Sonnenfinsternis und Phototechnik in Erscheinung

Wie auch immer die Konfrontation mit der verschwundenen Sonne ausgeht, in diesen Etuden ist zu merken, dass das Ereignis unabhängig von seiner Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit in verschärfter Form die Dimensionen unseres Daseins in Momentaufnahmen sichtbar macht und sie zugleich in diesen ungeheuren Rahmen einer außerhalb von uns ablaufenden Weltzeit stellt. Und diese Situation erzeugt alle möglichen und unmöglichen Empfindungen, Mutmaßungen und Erwartungen. So sehen wir eine Sonnenfinsternis, jedoch sollten wir sie in vergleichbarer Weise betrachten, wie etwa Robinson auf seiner Insel die Naturereignisse beobachtete und zu interpretieren begann.

Ihn regierte nicht die Angst. Er kam nicht auf einer einsamen Insel zur Welt, sondern war ein Schiffbrüchiger, der seiner Zivilisation beraubt wurde. Also errichtet er nicht nur die Kopie einer Welt, die ihm bekannt und geläufig war, widmet sich nicht beliebigen Phantasien oder Illusionen, sondern schafft sich aus seiner Erinnerung seine Welt im Nacherfinden. Das Geschehen in der Natur ist nicht der Nachweis für Magie oder die Beglaubigung für ein Wissen außerhalb beglaubigten Wissens, sondern zwingt uns zur Erinnerung, wie Beobachtungen zu interpretieren sind, in welchem Bezugsrahmen sie zu verstehen sind.

Wenn die Sonne wieder scheint, sind alle diese Gedanken dahin. Und das ist vielleicht der Zweck, dass wir bei Ereignissen verschiedenster Art, die auch Furcht einflößen, von Ängsten begleitet sein können, am Ende auch wieder lachen wollen.

Seit der Antike kennen wir, dass nach einer Zeit der Furcht, nach Ängsten über Weltuntergang und Ende der Zeiten das Lachen alles zur Nichtigkeit werden lässt, gleichsam die frohe Nachwelt konstituiert, die über den Grund der Ängste und Bedenken nicht mehr ausführlicher sprechen möchte. Wenn wir die Gelegenheit zum endzeitlichen Rückblick schon nicht hochkommen ließen, wofür eine Sonnenfinsternis auch keinen Anlass bieten kann, so können wir zwar nicht wirklich lachen, jedoch tröstet uns, dass die Finsternis immerhin Unterhaltungswert besaß.
Prof. Dr. Reinhold Knoll lehrt am Soziologieinstitut der Universität Wien.