Im auslaufenden 19. Jahrhundert war die Lage in den unter fremder Herrschaft stehenden Teilgebieten sehr unterschiedlich. Bismarck war ein ausgesprochener Feind der Polen. Im preußischen Teil wurde eine intensive Germanisierungspolitik betrieben. Die gegen nationalpolnische Bestrebungen gerichteten Maßnahmen waren mit einem Kulturkampf gegen die katholische Kirche, die sich als Verteidigerin des Polentums verstand, verbunden. Die deutsche Amtssprache und die zunehmende Verdrängung des Polnischen aus dem Schulunterricht auf der einen und die von Berlin geförderte Ansiedlung deutscher Kolonisten in den Provinzen Westpreußen und Posen sowie die Leugnung des polnischen Charakters Oberschlesiens sollten das Land ein für allemal deutsch machen. Das "Königreich Galizien und Lodomerien" verblieb beim "Ausgleich" von 1867 beim österreichischen Reichsteil. Es genoss eine gewisse Autonomie, den Regierungen gehörte immer ein Minister für Galizien an, auch nahmen polnische Adelige namhafte Positionen im politischen Gefüge Österreichs ein. Kunst und Wissenschaft konnten sich ungestört entfalten. Allerdings begannen sich mit dem nationalen Erwachen der Ruthenen - so hießen die Ukrainer in der Monarchie - die Gegensätze in Ostgalizien, die auch soziale waren, rasch zu verschärfen. Im russischen Teil Polens entwickelten sich zwei gegensätzliche politische Gruppierungen: die bürgerlichen Nationaldemokraten unter Roman Dmowski suchten unter panslawistischen Vorzeichen die Versöhnung mit Russland. Die günstige Wirtschaftsentwicklung ließ das Bürgertum auf inneren Frieden setzen; er fand auch seinen Niederschlag in der erfolgreichen Literatur des polnischen Positivismus, die den Polen mit Henryk Sienkiewicz den ersten Nobelpreisträger brachte. Im Gegensatz zu Dmowski stand die Partei der polnischen Sozialisten (PPS) unter Józef Pilsudski, die auf die Gunst der Stunde wartete, die Polen, und sei es mit Waffengewalt, seine Freiheit wiederbringen würde. Die ersten Monate nach Ausbruch des Weltkriegs 1914 lösten in allen Polen, die auf eine Befreiung vom Zarenjoch hofften, gemischte Gefühle aus. Während die deutschen Truppen in Russisch-Polen bis vor die Tore Warschaus vorstießen, mussten die Österreicher Lemberg und Przemysl aufgeben und konnten die russische "Dampfwalze" erst vor Krakau aufhalten. Józef Pilsudski, einer der Gründer der Polnischen Sozialistischen Partei, der nach fünf Jahren Sibirien und Untergrundtätigkeit in Lodz im österreichischen Galizien Zuflucht gefunden hatte, sah die Zeit reif für ein aktives Eingreifen der Polen im Kampf für ihre Freiheit. Er hatte in Galizien schon einen "Schützenverband" aufstellen dürfen, dieser bildete den Grundstock der nun formierten "Polnischen Legionen" im Verband der k.u.k. Armee. Nach dem Zurückdrängen der russischen Truppen proklamierten Deutschland und Österreich-Ungarn das frühere Kongresspolen als unabhängiges Königreich, vorerst allerdings ohne König und ohne daran zu denken, dem neuen Land ihre eigenen polnischen Gebiete abzutreten. Pilsudski wurde Mitglied des Staatsrates, doch erkannte er bald, dass die Mittelmächte - Hohenzollern wie Habsburger zeigten Aspirationen auf den Thron dieses Polen - sehr selbstsüchtige Geburtshelfer waren. Als kompromissloser Nationalist trat er 1917 aus dem Staatsrat aus und wurde in Magdeburg in Festungshaft gesetzt. Als die Mittelmächte im Frieden von Brest-Litowsk Lenin die Anerkennung der unabhängigen Ukraine abzwangen und dieser das umstrittene Cholmer Land zuteilten, wandten sich die Polen vollends von den Mittelmächten ab. Der Nationaldemokrat Roman Dmowski, antideutsch und antisemitisch eingestellt, hatte im Pariser Exil ein polnisches Nationalkomitee gegründet, das nach der Oktoberrevolution von der Entente anerkannt wurde. So stand Polen in Versailles als Siegermacht da. Der Friedensvertrag brachte die überwiegend polnische Provinz Posen und das gemischtsprachige Westpreußen (wodurch Ostpreußen vom Reich abgeschnitten wurde). Danzig als "Freie Stadt" sollte polnische Hafeninteressen absichern. Eine Volksabstimmung in den Masuren im südlichen Ostpreußen endete trotz mehrheitlich polnischer Besiedlung mit einer Niederlage für Polen. In Oberschlesien kam es nach der Abstimmung, die 60 Prozent für Deutschland erbrachte, zu Aufständen polnischer Freischärler und Gegenangriffen deutscher Freikorps. Schließlich sicherte der Völkerbund durch eine Teilung dem Staat Polen die Osthälfte der wegen ihrer Kohlevorkommen begehrten Region. Inzwischen war Pilsudski, bei Kriegsende sofort zum Oberkommandierenden der polnischen Armee berufen, zum Staatschef aufgestiegen. Anders als Dmowski, der für eine Ausdehnung Polens auf das piastische Schlesien und Pommern plädierte, sah er in der Russischen Revolution die Chance, den alten Jagiellonenstaat zu erneuern. Sogar im Streit um das polnische Wappentier kamen die unterschiedlichen Tendenzen zum Ausdruck: Der Piastenadler - von der Volksrepublik 1945 wieder eingeführt - blickt nach Westen, der Jagiellonenadler nach Osten. Das Schicksal Galiziens, auf das Österreich von vornherein verzichtet hatte, war noch ungewiss. Pilsudski wollte den Anspruch der zunächst freien Ukraine auf Lemberg/Lwów/Lwiw nicht hinnehmen. Schon 1919 hatte er die Ukrainer gezwungen, ihm die Stadt abzutreten. Der Sieg der Bolschewiken über die ukrainischen Nationalisten und das Ende der Hoffnungen, dass die zaristischen "Weißen" den Bürgerkrieg gewinnen würden, ließ den Westen Pilsudski freie Hand zur Revision der Ostgrenzen geben. Er hielt die Bolschewiken für so geschwächt, dass er einen erfolgreichen Präventivkrieg gegen den russischen "Erbfeind" riskierte. Ohne Kriegserklärung befahl er am 17. April 1920 den Vormarsch nach Osten. Unter dem Vorwand, die von den Bolschewiken vertriebenen ukrainischen Nationalisten wieder einzusetzen, eroberten die polnischen Truppen Kiew. Die Unterstützung durch die verhassten polnischen "Pany" raubte den Nationalisten beim ukrainischen Bauernvolk freilich die letzten Sympathien. Nun entdeckte auch Lenin den gescholtenen Nationalismus. In seinen Aufrufen, den polnischen Aggressoren entgegenzutreten, wandte er sich nicht nur an Bauern und Proletarier, sondern auch an die Bürger und ehemaligen Zarenoffiziere. Die Rote Armee unter Marschall Tuchatschewski (den der "Dank des Vaterlandes" 17 Jahre später in den stalinistischen Schauprozessen ereilte) ging zur Gegenoffensive über. Und die Sowjettruppen machten nicht an der alten polnischen Grenze Halt, sondern drangen tief nach Polen ein. Schon sah Lenin durch das Überrollen Polens den Weg frei zur Weltrevolution: "Bald werden wir Deutschland haben. Wir werden Ungarn zurückerobern. Der Balkan wird sich gegen den Kapitalismus erheben. Italien wird erbeben. Das bürgerliche Europa befindet sich im Sturm und zittert in allen Fugen", sagte er auf dem 2. Kominternkongress. Die siegreichen Sowjettruppen installierten in Bialystok eine KP-Regierung, in der der gebürtige Pole Feliks Dzierzynski, der Chef von Lenins Terrorpolizei Tscheka, das Sagen hatte. Der Westen erzitterte in der Tat: Hatte Lenin noch zwei Monate zuvor den vormarschierenden Polen eine Grenze weit in weißrussichem und ukrainischem Gebiet angeboten, so zog der britische Außenminister Curzon auf der Interalliierten Konferenz in Spa im Juli 1920 auf der Karte eine Grenzlinie, die den ethnischen Gegebenheiten entsprach und sogar Lemberg den Sowjets überlassen hätte (diese Curzon-Linie bildet übrigens auch heute ungefähr Polens Ostgrenze). Im Siegestaumel des "revolutionären Krieges" lehnte Lenin ab. Aber er hatte nicht mit dem polnischen Patriotismus gerechnet, den Marschall Pilsudski nun aufbot. Die Russen im Land wurden nicht als Bringer der sozialistischen Befreiung, sondern als Feinde der eben gewonnenen Unabhängigkeit betrachtet. Es gab für sie keine Unterstützung. Pilsudski und der ihm von Frankreich beigesellte Berater General Weygand konnten mit aller Kraft zum Widerstand rüsten. Während Stalin als Oberkommandierender der roten Truppen in Galizien wenig erfolgreich operierte, stieß Tuchatschewski auf Warschau vor. Am 14. August 1920 kam es zur Entscheidungsschlacht; ihr Ausgang - eine Niederlage der Roten Armee - wurde im Westen als "Wunder an der Weichsel" gefeiert. Moskau musste von der Idee, die Weltrevolution auf Bajonettspitzen in andere Länder tragen zu können, Abschied nehmen. Im Frieden von Riga (1922) wurde die Ostgrenze Polens neu festgelegt. Die Sowjets mussten auf Ostgalizien mit Lemberg und auf weißrussiche Gebiete verzichten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 2. 2001).