Rund siebenhundert Seemeilen südöstlich von der Küste Floridas befindet sich eine der ärmsten Regionen der Welt. Christoph Kolumbus machte auf einer der Inseln 1492 die erste Zwischenlandung auf seiner vermeintlichen Fahrt nach Indien und nannte sie Espaniola oder Hispaniola, Kleinspanien. Eineinhalb Flugstunden von Miami entfernt, könnte man annehmen, es handle sich um ein tropisches Paradies und einen bevorzugten Umschlagplatz für US-amerikanische Geschäfte. Doch die Realität ist grausamer. Hispaniola wurde zur Heimat zweier Staaten. Das auf der westlichen Seite gelegene Haiti ist das ärmste Land Mittelamerikas. Die Dominikanische Republik im östlichen Teil hatte mehr Glück und verfügt über ein im Durchschnitt sechsmal höheres Pro-Kopf-Einkommen als der westliche Nachbar. Doch auch die Dominikanische Republik blieb von politischen und wirtschaftlichen Wirren nicht verschont, bis ihr in den letzten zehn Jahren der Durchbruch gelang. Haitis Teufelskreis aus Armut und Gewalt könnte mit der Rückkehr von Präsident Jean-Bertrand Aristide beendet werden, vorausgesetzt, Haiti und die USA ziehen aus der leidvollen Geschichte eine Lehre. Trotz Gewaltherrschaft, trotz gelegentlicher Invasionen des mächtigen Nachbarn ist der Dominikanischen Republik ein Durchbruch gelungen. Nicht nur das Schul- und Gesundheitswesen, auch die Industrieproduktion und der Dienstleistungssektor erlebten einen Aufschwung. In den Neunzigerjahren war sie eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften, Investitionen der Ausländer boomten. Not in Haiti Währenddessen wurde in Haiti die Not immer größer. Die USA duldeten eine Reihe korrupter Diktatoren, denen das Wohlergehen der Menschen ihres Landes egal war. Als das Duvalier-Regime fiel und Jean-Claude Duvalier, Sohn von Fran¸cois Duvalier, dem Diktator auf Lebenszeit, 1986 vertrieben wurde, haben sich die Vereinigten Staaten durchgerungen, demokratische Bewegungen zu unterstützten. Gewaltsame Auseinandersetzungen waren allerdings die Folge, Amerika reagierte mit Wirtschaftssanktionen. Auch die ausdauerndsten Investoren verließen schließlich das Land. Jean-Bertrand Aristide, römisch-katholischer Priester und Befreiungstheologe, der aufseiten der Armen für die Menschenrechte und gegen die Diktaturen gekämpft hatte, wurde 1990 in den ersten freien Wahlen zum Präsident gewählt, musste jedoch nach einem Militärputsch das Land verlassen. Drei Jahre später legte er das Priesteramt nieder und kehrte mit Hilfe der USA zurück, allerdings nur für zwei weitere Jahre. Die Begründung der USA war, 1996 würde seine ursprüngliche Präsidentschaft ablaufen. Nach fünfjähriger Unterbrechung im November wiedergewählt, hat Aristide am 7. 2. sein Amt angetreten. Es ist ein Land, das noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Die kleine Gruppe der Reichen misstraut Aristide. Aristide misstraut den Reichen, die nicht nur Reformen gegenüber kompromisslos sind, sondern seinerzeit den Putsch unterstützten, der zu seinem Sturz geführt hatte. Auch die Außenpolitik der USA ist zwiespältig. Trotz seiner Popularität, trauen dem Expriester viele konservative Politiker nicht über den Weg. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Armut ist es an der Zeit, mit dem sozialen und wirtschaftlichen Aufbau zu beginnen. Das ist möglich, wenn alle Verantwortlichen in Schlüsselpositionen endlich aufhören, sich erbittert zu bekämpfen. Präsident Aristide weiß, dass sein Feind nicht die Reichen Haitis sind, sondern die Massenarmut. Um dieser Herausforderung gerecht zu sein, benötigt er Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Und er braucht die finanzielle Hilfe der Vereinigten Staaten und Vereinten Nationen im Kampf gegen Analphabetismus, Epidemien und Umweltverschmutzung. Aristide ist gut beraten, das Übel an zwei Fronten zu bekämpfen: Der wirtschaftliche Fortschritt ist ohne Ausbau des Schul-und Gesundheitswesens nicht möglich. Reform-Chance Haitis Elite sollten einsehen, in ihm einen Verbündeten, nicht einen Feind gefunden zu haben. Seine Anerkennung durch die Bevölkerung ist für ihren Reichtum keine Gefahr, sondern eine Chance für Reformen, die zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum führen. Die USA sollten einsehen, dass Haiti nicht imstande ist, die drückende Armut ohne Unterstützung von außen zu überwinden. Geld ist notwendig, um die Kinder in die Schule zu schicken und Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Aids einzudämmen, die das Leben so vieler Menschen bedrohen. Als Haitis wahrscheinlich erster Führer, dem die Bevölkerung vertraut, garantiert Aristide einen Umschwung mit demokratischen Mitteln. Haiti ist das Extrembeispiel eines Staates, in dem sich die Spirale der Armut, Krankheit und Gewalt über Generationen hinweg fortsetzt. Der richtige Weg zum Wirtschaftsaufschwung ist klar vorgezeichnet, doch um den ersten Schritt zu tun, benötigen verarmte Länder oft Hilfe ihrer Nachbarn. Und meistens etwas Glück. Haitis Glück ist ein in freier Wahl gewählter Präsident, der auf der Seite der Armen steht.

Jeffrey D. Sachs ist Galen- L.-Stone-Professor der Wirtschaftswissenschaften und Direktor des Center for International Development an der Harvard University.
©: Project Syndicate, Prag 2000