Norman Finkelstein hat mit seinem provokanten Buch Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird den Applaus aus der falschen Ecke provoziert. Er hat mit ihm gerechnet, zumal in Deutschland und Österreich. Er nimmt ihn jedoch in Kauf, weil er die Freiheit des Wortes über alles stellt. Darin ist Finkelstein sehr amerikanisch und sehr politisch. Er ist kein Historiker. Er fordert den Diskurs, um zu verändern. Er will Gerechtigkeit und scheut die Auseinandersetzung nicht. Seine Thesen sind nicht neu. Die jüdische Linke, im Besonderen jene in Israel, tritt seit vielen Jahren energisch gegen eine politische Instrumentalisierung des Holocaust auf. Die Positionen sind - bei Lichte besehen - vernünftig: Jude zu sein kann nicht bedeuten, herausgehoben zu sein. Der Philosemitismus ist genauso diskriminierend wie der Antisemitismus. Eine der stärksten Reaktionen in der BRD - und wohl auch in Teilen der österreichischen Gesellschaft - war nach dem Krieg ein neuerlich extremes Verhältnis zu den Juden. Die Last der Geschichte, die drückende Schuld, hat vor allem bei vielen Nachgeborenen dazu geführt, dass sie es noch besser machen wollten. Sie wollten die Verbrechen ihrer Eltern überkompensieren. Sie wollten die Juden schützen und damit ihre Lehre aus der Geschichte dokumentieren. Ein sicheres "Nie wieder" glaubte man lange Zeit vor allem dadurch zu erreichen, dass man die Juden zu einer Gesellschaft außer Konkurrenz stilisierte. Hinzu kam, dass nach dem Holocaust Juden aus dem deutschen und österreichischen öffentlichen Leben weitgehend verschwunden waren: In Erscheinung traten die Juden weder als Einzelne oder als starke Gemeinden, sondern in Gestalt von Israel und den jüdischen Organisationen. Die meisten Wiener kennen vermutlich keinen Juden persönlich; der World Jewish Congress dagegen wurde ihnen in der Waldheim-Ära zum Begriff. Jene, die sich damals nicht auf die Seite der Antisemiten schlagen und gegen die "Ostküste" heulen wollten, sahen sich gezwungen, sich mit einer Organisation zu solidarisieren, die sie eigentlich nicht kannten. Ob diese bedingungslose Unterstützung auch den einzelnen Juden wirklich immer hilft - genau diese Frage stellt Finkelstein. Er entmythologisiert und klärt auf. Es gibt "die Juden" nicht, ebenso wenig wie "die Deutschen" oder "die Wiener". Es gibt innerhalb des Judentums Geschäftemacher und Glücklose, Gewinner und Verlierer, integre Menschen und solche mit verwerflichem Charakter. Die israelische Politik ist genauso gut oder schlecht wie die amerikanische oder die französische. Am meisten ist den Menschen gedient, wenn die Fakten stimmen. Finkelsteins schlüssigstes Plädoyer verdient daher Beachtung: Wie viele Überlebende des Holocaust gibt es tatsächlich? Die Frage kann nicht dazu missbraucht werden, den Holocaust zu leugnen. Im Gegenteil: Finkelsteins Überzeugung zufolge war die Vernichtungsmaschine der Nazis effizient. Wenn es aber nur noch wenige Holocaust-Überlebende gibt, müssen diese umso mehr Geld bekommen. Finkelstein will nicht, dass Gelder unter dem Titel "Opferentschädigung" eingetrieben und dann zu anderen Zwecken verwendet werden. Das ist eine politische Frage, die nichts mit Rasse und Religion zu tun hat. Finkelstein votiert für Gerechtigkeit und Genauigkeit. Österreicher wie Deutsche können davon profitieren: indem sie ihr Verhältnis zum Judentum hinterfragen und mit Vorurteilen aufräumen - auch wenn diese eigentlich gut gemeint gewesen waren. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 2. 2001)