Washington/London/Wien - Jetzt wird es Schlag auf Schlag gehen: Mit der Entschlüsselung der Abfolge der rund drei Milliarden Basenpaare der menschlichen DNA durch die HUGO-Forscher und die Experten von "Celera Genomics" (Craig Venter) begann auch schon die "Suche nach dem Sinn". So zum Beispiel konnten die Wissenschafter bereits rund 1.000 krank machende Gene in ihren Funktionen identifizieren. Die meisten von ihnen dürften Enzym-Systeme im Stoffwechsel stören. Auch erste Blicke in die Evolution sind bereits möglich. "Wir haben die funktionellen Klassen von fast 1.000 krank machenden Genen bestimmt. Dabei haben wir erstaunliche Verbindungen zwischen den Produkten dieser Gene (Proteine, Anm.) und den Charakteristika dieser Krankheiten feststellen können. Dazu gehören der Zeitpunkt, wann solche Krankheiten ausbrechen, aber auch die Art der Vererbung", schreiben Wissenschafter um David Valle von der Johns Hopkins School of Medicine an der Universität von Baltimore (US-Bundesstaat Maryland) in der britischen Wissenschaftszeitschrift "Nature", welche die HUGO-Daten publiziert. Diese funktionale Einteilung auf der Basis der Genom-Informationen des Menschen könnten bereits die Zielrichtung für zukünftige Forschungsarbeiten vorgeben: Von den 923 untersuchten Krankheits-Genen betreffen 31,1 Prozent Enzyme, die wichtige Rollen im Stoffwechsel des menschlichen Organismus spielen. Dann kommen Gene, welche für Eiweißstoffe stabilisierende Funktionen ausüben oder die räumliche Struktur (Faltung) von Proteinen beeinflussen bzw. eine Auswirkung auf weitere Proteine haben (13,6 Prozent). Die Wissenschafter: "Die weiteren zwölf Kategorien von Krankheits-Genen umfassen weniger als zehn Prozent dieser genetischen Informationen." Zur Entwicklungsgeschichte Ebenfalls in "Nature" stellen Evolutionsforscher um Wen-Hsiung Li von der Universität von Chicago mit der Publikation der Sequenzdaten der Basenpaare auf der menschlichen DNA erste Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte des Menschen auf der Basis der gesamten Erbinformation von Homo sapiens vor: "Es gibt viele sich wiederholende Elemente in unserem Genom. Sie dürften sehr wichtig für die Evolution der Eiweißstoffe der Säugetiere gewesen sein." Viele Proteine würden einander in Teilen ähneln ("Domain-Sharing") - und genau dieser Konservativismus des menschlichen Genoms könnte weiter Hinweise auf die Entstehung des Menschengeschlechts geben. "Bioinformatik - Schwimmen in einem Meer an Daten" - so titelt David S. Roos von der Abteilung für Biologie und vom "Genonomics Institut" der Universität des US-Bundesstaates Pennsylvania (Philadelphia) seinen Beitrag in "Science", wo die Celera-Daten veröffentlicht werden. Das Problem ist die ungeheure Informationslawine, welche die Entschlüsselung des Erbguts von Lebewesen über die Wissenschaft hereinbrechen lässt: "GenBank (Gen-Datenbank, Anm.) weist derzeit mehr als zehn hoch zehn (zehn Milliarden, Anm.) Basenpaar-Sequenzdaten auf. Diese Zahl verdoppelt sich von Jahr zu Jahr. Und neue Technologien über die Gen-Aktivierungsmuster, die Struktur von Proteinen und die Wechselwirkungen zwischen Eiweißstoffen werden noch zusätzliche Informationen bringen." Der Wissenschafter: "Wir schwimmen in einem See an Daten mit stark steigendem Wasserspiegel. Wie können wir verhindern, dass wir ertrinken?" Was der Wissenschafter fordert: Der Zugang zu den Genom-Daten muss frei sein, sonst hat die Menschheit überhaupt keine Möglichkeit, die nützlichen Schätze zu heben, die durch diese wissenschaftlichen Arbeiten verfügbar werden. Mehr Reparatursysteme als andere Lebewesen Ganz andere Erkenntnisse haben im vergangenen Jahr Wissenschafter vom Imperial Cancer Research Fund (London) und von der Universität von Pittsburgh auf Grund der aus den Sequenziermaschinen hereinströmenden Informationen über die menschliche DNA gewonnen. Offenbar besitzt der Mensch viel mehr Erbgut-Reparatursysteme als andere Lebewesen. "Im vergangenen Jahr hat das menschliche Genom viele bis dahin unbekannte DNA-Polymerasen preisgegeben. Derzeit sind zumindest 15 dieser DNA-Polymerasen beim Menschen bekannt. Das sind mehr als bei jedem anderen Organismus", schreiben Richard D. Wood (Pittsburgh) sowie britische Wissenschafter in "Science". Der Hintergrund: DNA-Polymerasen kontrollieren als Enzyme ständig die richtige Abfolge der Basenpaare C (Cytosin), G (Guanin), T (Thymin) und A (Adenin) auf dem Erbgutstrang. Taucht ein Fehler auf, wird der entsprechende Teil durch spezifische Enzyme herausgeschnitten. Die Polymerasen ergänzen die entfernten schadhaften Teile. Die Forscher über die Konsequenzen für Wissenschaft und Medizin: "Eine Untersuchung der genetischen Unterschiede bei der Aktivierung der Reparatur-Gene des Menschen und ein Vergleich mit Säugetieren mit geringerer Lebensspanne sollte dazu beitragen, die Bedeutung der DNA-Reparatur-Systeme für die normalen Alterungsprozesse zu klären." Kompliziertes mit einfachen Mitteln Ganz sicher sind Wirbeltiere nicht nur durch mehr Erbsubstanz als andere Organismen ausgezeichnet. Vielmehr ist ihre genetische Maschinerie viel komplizierter als jene einfacherer Lebewesen. Das gilt auch für jene Mechanismen, die zum so genannten "programmierten Zelltod" (Apoptose) führen. Diesen Selbstmord begehen Zellen in der Embryonalentwicklung, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Weiters gibt es Zell-Selbstmord, wenn die Erbsubstanz irreparabel geschädigt wird. Auch ein Teil der körpereigenen Krebs-Abwehr funktioniert auf dieser Basis. Dr. L. Aravind vom Nationalen US-Zentrum für Biotechnologie Information sowie weitere US-Wissenschafter haben die Apoptose-Mechanismen des Menschen mit jenen der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und des Wurms Carnorhabditis elegans verglichen. Die kompletten DNA-Sequenzen dieser Organismen liegen ja vor: "Nur mit der fast fertigen Entschlüsselung der menschlichen DNA ist ein genauer Vergleich der Apoptose-Systeme zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen möglich. Die Resultate zeigen eine erstaunlich gesteigerte Komplexität des programmierten Zelltods bei den Wirbeltieren." Der menschliche Geist Schließlich bietet die menschliche Erbsubstanz auch die Basis für die menschliche Existenz in geistiger Hinsicht. Klar ist, dass Erziehung und Umwelt die Ausformungen des menschlichen Lebens bestimmen. Doch besonders in der Psychiatrie und teilweise auch in der Psychologie wird die Genom-Forschung ebenfalls ihren Platz haben. Ob der Begriff "Verhaltensgenetik" je gerechtfertigt sein wird, bleibt offen. Doch die Wissenschaft wird sich ganz sicher auch mit den genetischen Grundlagen für Krankheiten wie Morbus Alzheimer, Schizophrenie, Depressionen etc. beschäftigen. Peter McGuffin und seine Kollegen vom Kings College in London in "Science": "Man hat vorhergesagt, dass die 'Genetisierung' das mit psychischen Erkrankungen verbundene Stigma erhöhen könnte. Doch das Gegenteil tritt ein. Fortschritte in der Genetik haben den gegenteiligen Effekt. Zum Beispiel ist es heute völlig normal, dass ein Ex-US-Präsident und seine Familie akzeptieren, dass er an der Alzheimer-Krankheit leidet. Und das ist eine Krankheit, bei der man schon große Fortschritte im Verständnis ihrer molekularen Grundlagen gemacht hat." (APA)