Manfried Welan

Ein Dilemma unserer Verfassung besteht darin, dass ihr Wahlrecht den demokratischen Wechsel erschwert, ja verhindert. Keine Partei trat oder tritt für ein Mehrheitswahlrecht ein. Von einem anderen Umbau des Regierungssystems war auch nicht die Rede. Daher steht nur die Koalitionsform, das "Wer mit wem" zur Diskussion.

Der Wähler hat aufgrund des Wahlrechts keine klare Alternative zwischen Regierungsparteien und -programmen. Er hat wohl die Wahl zwischen mehreren Parteien, hat aber auf ihre Koalitionen keinen Einfluss. Da heute Parteiführer "für alles offen" sind, kann der Wähler auch nicht für oder gegen eine bestimmte Koalition entscheiden. Wenn auf die Frage, mit welcher anderen Partei die eigene eine Koalition eingehen wird, geantwortet wird: "Diese Frage kann vor den Wahlen nicht beantwortet werden, da sie der Wähler entscheidet", so kann man dazu nur lächeln.

Die Wähler müssen erfahren, welche Koalitionsformen sie erwarten werden. Denn, wie Doris Knecht es formuliert, "Wer eine Partei wählt, wählt immer auch das Packerl, auf das sich die Partei nach der Wahl zu schmeißen gedenkt." Aber dieses Packerl kann man nur vermuten. Erhard Busek hat sich einmal vor einer Wahl für eine bestimmte Koalition "Ohne wenn und aber" ausgesprochen. Er wurde kritisiert, aber die Wählerschaft wusste, woran sie war und wer mit wem verhandeln wird.

Heute kann sich Einem eine rot-grüne, Bartenstein eine schwarz-blaue Koalition vorstellen, und sie sind wohl auch dafür. Aber was sagen Klima und Schüssel klar und deutlich? Für welche Koalitionsform plädieren sie? Wollen sie miteinander nach der Wahl zusammenarbeiten oder nicht? Sie wollen wohl in der Regierung bleiben, aber mit wem? Und sie werfen auch Optionen wie eine Minderheitsregierung (Klima) oder den Gang in die Opposition (Schüssel) in die Diskussion.

Im Grunde handelt es sich um eine logische Entwicklung: An die Stelle der selbstgewählten Koalitionsunfähigkeit der Sozialisten in der Ersten Republik trat in der Zweiten die Oppositionsunfähigkeit der beiden Koalitionspartner. Daraus ist eine Oppositionsunwilligkeit geworden. Daher fehlt es am demokratischen Wechsel.

Waren in der Ersten Republik die bürgerlichen Parteien in ihrer Koalitionsfähigkeit einseitig beschränkt, so kam es in der Zweiten zu einer erzwungenen Koalitionsunmöglichkeit der Opposition. Aufgrund des Wahlsystems fürchten beide Regierungsparteien beim Gang in die Opposition, dass sie nicht mehr leicht in die Regierung kommen. Im Wahlkampf wird die Konkurrenzsituation der Parteien natürlich in die Regierung hereingetragen.

Daher ist alles offen und neue Koalitionsformen kommen ins Gespräch. Die Spitzenkandidaten legen sich nicht fest und bringen bewegliche Ziele ins Treffen. Die Wähler wissen nichts.

Lange Einübungszeit

Die Oppositionsunfähigkeit oder besser -unwilligkeit der beiden Regierungsparteien, und die besondere Oppositionsfähigkeit, ja -willigkeit der anderen Parteien gewährleisten aber geradezu die Fortsetzung der bisherigen Koalition. Ihre Führer müssen der Opposition, insbesondere den Freiheitlichen, dankbar sein. Ohne eine Opposition, welche die Regierungsparteien zusammenführt und eint, würde die Koalition wahrscheinlich schon zerfallen sein. Aufgrund langer Übung macht die Konkurrenzsituation die Zusammenarbeit nicht unerträglich. Beide Parteien haben gelernt, damit gut umzugehen und gut zu leben.

Im Gegensatz zu ihren Vorfahren in der alten Koalition halten sie die Legislaturperiode durch und vieles aus den Regierungsprogrammen ein. Auch das Mitregieren in wichtigen Organen der EU verbindet sie zu einer Koalition in Permanenz.

Die Exekutive steht überall im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, die Opposition ist in den Parlamenten vertreten, führt aber ein Schattendasein. Glanz und Glamour der exekutiven Gewalt geht allem anderen vor, ganz abgesehen davon, dass sie über mehr Information, Expertise, Personal und Kapital verfügt als das Parlament im Allgemeinen oder die Opposition im Besonderen. Ist der Gang in die Opposition, von dem man überdies nicht weiß, was dabei herauskommt, eine gute Option?

Was weiß der Wähler? Was soll er glauben?

Professor DDr. Manfried Welan ist Vizerektor der Universität für Bodenkultur in Wien. Ein weiterer Beitrag von Prof. Welan zur Regierungsbildung 1999 erschien im STANDARD vom 2. August.