Graz - Sie können keine Speisekarte lesen. Keinen Meldezettel ausfüllen. Und der U-Bahn Plan ist nicht mehr als ein Gewirr aus bunten Linien: Geschätzte 300.000 Menschen sind in Österreich so genannte funktionale Analphabeten. Sie haben das Lesen und Schreiben verlernt. Deshalb werden Tricks, wie "Ich hab' meine Brille vergessen" zu Alltagskrücken. Doch oft reichen diese nicht aus. Und der Arbeitsplatz ist weg. Ein "Outing" wagen nur wenige. Denn Analphabetismus ist in Österreich nach wie vor ein Tabuthema.

"Die Bildungspolitik will einfach nicht akzeptieren, dass es auch bei uns Analphabeten gibt. Trotz Schulpflicht", kritisiert Otto Rath, Geschäftsführer des Grazer Vereins für innovative Sozialprojekte (ISOP). Es gebe keine offiziellen Statistiken, geschweige denn eine zentrale Anlaufstelle. Nur ambitionierte Vereine, wie ISOP oder der Salzburger "abc", bieten Hilfe und Kurse an. Für eine bundesweite Aufklärung fehle das Geld.

"Es herrscht bei uns wirklich eine Art Vogel-Strauß-Denken vor", sagt Rath. Vor allem im Vergleich zu Deutschland, wo es bis zu vier Millionen funktionelle Analphabeten geben soll. Dort werden seit den achtziger Jahren über einen Bundesverband erwachsene Analphabeten gefördert. Über eine Hotline gibt es anonyme Beratung. Durch groß angelegte Kampagnen im Print-und TV-Bereich, wie "Schreib dich nicht ab! Lern lesen und schreiben!" hat man längst mit dem Tabuthema gebrochen.

Psychische Barriere

"Wir brauchen unbedingt eine Studie, um den Status Quo zu eruieren", fordert Rath. Denn zu wenige würden derzeit Hilfe suchen: "Viele schaffen das psychisch nicht." Weil sie sich schon so zurückgezogen haben. Der funktionelle Analphabetismus zieht sich durch alle Altersstufen. Von den 30 Personen, die ISOP im Vorjahr betreut hat, waren viele knapp über 20 Jahre alt. Einige davon haben die Schule abgebrochen. Andere standen kurz vor der Pension. Wie ein Hilfsarbeiter, der nie Schreiben und Lesen musste. Rath: "Es geht vor allem darum, dass sie den Mindestanforderungen unser schriftgeprägten Gesellschaft standhalten".

(DER STANDARD, Print-Ausgabe 13. Februar 2001)