Mensch
"Das Ende des Anfangs": <i>Jürgen Langenbach</I> zieht Bilanz
Der Mensch hat viel weniger Gene als vermutet - um die 30.000, gerade 300 mehr als die Maus und doppelt so viel wie die Fruchtfliege -, und viele davon sind gar nicht seine eigenen, sondern Gene von Bakterien und Viren, die irgendwann in ihn eingewandert sind. Das ist die Überraschung an dem Großereignis, bei dem in Parallelpressekonferenzen in Washington, London, Berlin und Tokio am Montag das bisher größte Forschungswerk der Menschheit für vorläufig abgeschlossen erklärt wurde: Das menschliche Genom ist entschlüsselt.
Zwar wurde das schon im letzten Juni gefeiert - "die gesamte Landkarte der Medizin wird sich ändern", erklärte US-Präsident Bill Clinton, und vielen Genforschern war der Vergleich mit Gott und der Schöpfung nicht zu groß -, aber Streit unter konkurrierenden Forschergruppen und Wissenschaftsjournalen hat die Publikation verzögert.
"Rohbericht"
Und auch was jetzt vorliegt, ist nicht "das Humangenom", sondern ein "Rohbericht", der etwa 99 Prozent der Buchstaben des Gencodes mit etwa 77 Prozent Sicherheit erfasst.
"Hätte das vor fünf Jahren jemand prognostiziert, hätte ihm niemand geglaubt", erinnert sich Klaus Wilgenbusch, der bei Boehringer Austria Gendaten in Hinblick auf mögliche Tumortherapien auswertet, "aber jetzt ist es schon kein Quantensprung mehr. Es ist nicht so, dass der 12. Februar 2001 der Stichtag wäre, an dem die Medizin mithilfe von Gendaten zu forschen beginnen könnte."
Denn einzelne Gene werden länger schon entschlüsselt und publiziert. Aus ihrer Kenntnis entwickelt man auch Medikamente - "das braucht im Durchschnitt fünf bis zehn Jahre" (Wilgenbusch) -, mit der Kenntnis anderer will man individuelle Genprofile von Patienten entwickeln und ihnen Medikamente maßschneidern.
Umgekehrt schlummern im jetzigen Datenberg - die 3,2 Milliarden Buchstaben des menschlichen Gencodes würden etwa 150.000 STANDARD-Seiten füllen - die Schätze, die erst noch zu heben sind. "Die Metapher vom unbekannten Kontinent, den man umrundet hat, aber noch nicht erkundet, trifft es gut", urteilt Wilgenbusch. Und die Wissenschaftsjournale, die den Code publizieren, sind sich darin einig, dass seine Entschlüssellung erst "das Ende des Anfangs" ist.
"Genomics"
Das hat mehrere Gründe: Zwar kennt man jetzt annähernd alle Buchstaben des menschlichen Gencodes, aber die daraus gebildeten Worte (Gene) und gar ihre Bedeutung (Genfunktion) kennt man damit noch lange nicht. Und selbst wenn man sie einmal kennt, kennt man nur die Blaupause des Körpers, die den Plan enthält und die Befehle gibt. Aber man kennt nicht die Arbeiter, die sie ausführen: die Proteine, die alles in den Zellen tun. Erst ihre Fehlbildung durch mutierte Gene bringt Krankheiten, weshalb auch sie das Ziel für Medikamente sein müssen. Deshalb hat der nächste Wettlauf längst begonnen: Statt "Genomics" heißt es nun "Proteomics".
Trotzdem ist die Entwicklung der "Genomics" natürlich rasant, manchen zu rasant: "Die Fortschritte bei Gentests scheinen den gegenwärtigen ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen davongeilt zu sein", mahnt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die zufällig fast zeitgleich mit dem Humangenom publiziert wurde.
Regelungsbedarf
Denn auf einem Feld ist die Genforschung weit, bei der Diagnostik. Dort brechen auch die Probleme auf: Wer soll Gendiagnosen durchführen, und an wem? Wer soll Getestete beraten, vor allem dann, wenn es zwar Diagnosen gibt, aber keine Therapien?
Schon die breite Anwendung auch nur eines Gentests an einer Bevölkerung würde auch fortgeschrittene Medizinsysteme zusammenbrechen lassen, da sich nicht genug Kundige finden, fürchtet die OECD. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 2. 2001).