Wirtschaft
Weißbuch gegen schmutzige Chemie
Die EU-Kommission will strengere Regeln für gefährliche Stoffe - die Chemieindustrie sieht sich bedroht
Brüssel/Wien - "Umwelt- und Gesundheitsschutz" sind die beiden Hauptziele, die die Europäische Kommission mit ihrem neuen "Weißbuch für eine künftige Chemikalienpolitik" verfolgt. Das Strategiepapier, das die Kommission am Dienstag in Brüssel abschließend beriet, trägt maßgeblich die Handschrift der schwedischen EU-Umweltkommissarin Margot Wallström. Europas Chemieindustrie läuft gegen die Vorschläge Sturm, sieht gar hunderttausende von Arbeitsplätzen in Gefahr.
In der EU sind über 100.000 Chemikalien in Gebrauch, doch erst seit 1981 gilt eine europarechtliche Registrierungspflicht für die seitdem neu eingesetzen Substanzen. Die große Mehrzahl der heute verwendeten Stoffe stammt aber aus der Zeit davor ("Altstoffe"). Die meisten von ihnen wurden nie offiziell - oder nur lückenhaft - auf ihre Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt untersucht.
Kern der neuen EU-Chemikalienpolitik soll nun, so der Ansatz des "Weißbuchs", ein dreigliedriges Verfahren werden, das bis 2018 abgeschlossen sein soll. Alle Chemikalien, die in Mengen von mehr als jährlich einer Tonne pro Unternehmen produziert oder importiert werden, sollen in einer zentralen Datenbank registriert werden - das beträfe auch 30.000 Altstoffe. Sie wären nach Produktionsmenge, Eigenschaften und Verwendung zu klassifizieren. Für 80 Prozent aller Substanzen dürfte dieses Registrierungsverfahren ausreichen.
Die zweite Stufe ist aufwändiger: Bei Produktionsmengen über 100 Jahrestonnen und bei verdächtigen Stoffen wäre eine detaillierte Untersuchung und genaue Bewertung durchzuführen. Geschätzte Zahl: 4500 Substanzen.
Die dritte Stufe erfasst besonders gefährliche Chemikalien - krebserzeugende, das Erbgut verändernde, fortpflanzungshemmende. Für sie soll ein strenges Zulassungsverfahren gelten. Etwa 1350 Stoffe würden dieser Genehmigungspflicht am Ende unterliegen.
Aus Sicht der Chemieindustrie sind die Pläne der Kommission eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits würde die Regelung die komplizierten Verfahren vereinfachen, die seit 1981 gelten. Andererseits würden aber 30.000 Stoffe, die bereits vor 1981 existierten, neuen Kontrollen unterworfen. Ein hoher Mehraufwand, vor allem bei den 4500 Chemikalien, die von Stufe zwei des Verfahrens betroffen wären.
Die chemische Industrie in Europa sieht bereits Zusatzkosten von mehreren Milliarden Euro auf sich zukommen, sollten die im Weißbuch vorgeschlagenen Regelungen eingeführt werden. Für den kompletten Test eines Stoffes würden Kosten in Höhe von etwa 250.000 Euro (344.000 S) anfallen, so Manfred Ritz, Sprecher des deutschen Verbands der Chemischen Industrie (VCI), zum Standard. 400.000 Jobs sieht der VCI in Europa in Gefahr.
Jobs gefährdet?
Diese Zahl hält auch sein Kollege Erwin Tomschik, Referent für Chemikalienrecht beim Fachverband der chemischen Industrie Österreichs, für durchaus realistisch. Allerdings, so Tomschik zum Standard, wären hierzulande nur rund 30 der 400 Mitgliedsunternehmen des Fachverbands von der Untersuchungspflicht betroffen - diejenigen nämlich, die selbst chemische Stoffe herstellen. Zudem sind in Österreich nur etwa 44.000 Menschen in der Chemieindustrie beschäftigt (Branchenumsatz 1999: 4,6 Mrd. Euro) während in Deutschland 478.000 in der Branche arbeiten (Umsatz 1999: 97,1 Mrd. Euro). Doch Einfluss auf die Kosten für österreichische Firmen hätten die EU-Pläne allemal, da die meisten Grundstoffe aus Deutschland bezogen werden.
Die europäischen Chemieverbände sehen aber noch einen weiteren Nachteil: weniger strenge Zulassungsregeln in den Konkurrenzmärkten USA und Japan. VCI-Sprecher Ritz illustriert dies so: "In den USA werden schon bisher pro Jahr etwa 2000 neue Stoffe eingeführt, in der EU nur 200." (Jörg Wojahn, DER STANDARD, Printausgabe 14.2.2001)