Wien - Zufall oder Notwendigkeit? Just an dem Tag, als das Humangenomprojekt den genetischen Code des Menschen in Nature publizierte, hielt Michel Serres im Institut Fran¸cais einen großen Vortrag über neue Technologien. Michel Serres, der Philosoph der Sinnlichkeit, ist zu Recht berühmt. Zugleich ist er ganz "irdisch": Wie bei den großen Historikern der Annales -Schule, Lucien Febvre, Fernand Braudel und Marc Bloch, ist beim 1930 geborenen Serres der exakte Blick auf Konkretes aus seiner bäuerlichen Herkunft erklärbar: In Kreuzungen mit französischer Enzyklopädie - Examen in Mathematik, Literaturwissenschaft und Philosophie an der "École Normale" - entsteht dann etwa die Geschichte der Haut, eine Philosophie der Berührungen (u.a. in Les cinq senses , 1985). Und was hat das mit Technologien wie Biotechnologie und Internet zu tun? - Den optimistischen Glauben an den "Logos" im Wort, an Kommunikation, wie ihn Serres auch schon in der Art seines souverän freien Vortrags zeigt. Dazu ein geschichtlicher Blick auf die scheinbar einzig auf Zukunft gerichteten "neuen Technologien": Faszinierend sei doch, dass etwa der Salzgehalt des menschlichen Blutes demjenigen des Meeres entspreche; dass in jedem gegenwärtigen Menschen die Geschichte der Evolution von Jahrmillionen gebündelt sei. Michel Serres knüpft so die Biotechnologie als Evolutionsgeschichte an die Bildungsgeschichte: Die im genetischen Code enthaltenen Informationen aus Jahrmillionen müssten gerade das Bewusstsein schärfen für die Gegenwärtigkeit uralter Bildung und Kunst, gespeichert in drei Schritten, vom Aufkommen der Schriftkultur über die Erfindung des Buchdrucks zum Internet: Gutenberg habe den Humanisten um Erasmus und Montaigne die Möglichkeit gegeben, ihre Ideale zu verbreiten - doch erst zwei Jahrhunderte später führten sie zu "Demokratie". Leid, Trauer, Liebe Auch das Internet biete die Möglichkeit, die elitären Speicher des Wissens - Bibliotheken, Archive - allgemein zugänglich zu machen, ohne Schwellenangst. Und was liegt an dieser Aufschließung der Speicher des Wissens? - Das Freisetzen enormer Potenziale an Humanität, auch im Wissen der Kunst um von keiner Gentechnik ersetzbare Grundkonstanten menschlicher Erfahrung: Leid, Trauer, Liebe. "Aber in dem Moment, als das Internet hochschoss, zog man in Paris den unsäglichen Bibliotheksturm hoch." Gerade weil Serres von der Naturwissenschaft kommt und im Team eine auf Dialog aufgebaute Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat, wirkt sein Optimismus nie "abgehoben", sondern Kommunikation suchend: "Wir brauchen keine Gemeinschaft, die - wie die Europäische Union nach dem Krieg - auf Kohle und Stahl gründet, sondern eine Pädagogik, die auf den Austausch kulturellen Wissens baut und die Vielfalt nicht einebnet. Die Figuren dafür sind Hermes, der Bote, und Harlekin. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 2. 2001)