Die Mongolei ist von der grimmigsten Kältewelle seit einem halben Jahrhundert betroffen. Millionen Tiere verenden, die von Viehzucht abhängigen Bewohner verlieren ihre Existenz, berichtet Standard-Korrespondent Johnny Erling. Die Kaschmirziegen lagen verendet und steif gefroren vor der Jurte ihres Besitzers. Die mongolische Nomadenfamilie hatten sie nicht retten können. An einer aufgeschnittenen Ziege sah der Agrarexperte der Vereinten Nationen, Peter Harris, dass das Tier nur noch Sand und Erde in sich hineingewürgt hatte. Die Mongolen, deren Gemeinwesen wie das keines anderen Volks der Welt von der Viehzucht abhängig ist, müssen hilflos zusehen, wie ihre Tiere verhungern. Sie zeigten Harris ihre Pferde. Die stämmigen Reitpferde, auf deren Vorfahren die Goldene Horde, einst bis nach Europa preschten, waren bis auf die Rippen abgemagert und ihre Hälse voller Wunden. "Sie verbeißen sich im Hunger ineinander", erfuhren die UN-Experten auf Inspektionstour durch die Krisengebiete. Seit das Land von Oktober an der Gewalt von 20 Schneestürmen und Dauerfrost mit Temperaturen bis zu minus 49 Grad ausgesetzt wurde, hat erneut das Massentierverenden begonnen. Mehr als eine Millionen Pferde, Schafe und Rinder sind schon verhungert, der Winter wird noch zweieinhalb Monate dauern. Damit kommt auf das Steppenland mit kaum 2,6 Millionen Menschen die schlimmste Tierkatastrophe seit einem halben Jahrhundert zu. Verzweifelte Hirten Helfer treffen auf hilflose und verzweifelte Hirtenfamilien. Ein älterer Hirte zieht sich vor den UN-Experten seinen Schafspelz aus, weil er demonstrieren will, wie viele Kleidungsschichten er überziehen muss. "Wir Mongolen sind Frost gewöhnt, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Mir fehlen die Worte, um solche Kälte zu beschreiben." Die mongolische Sprache hat einen Begriff dafür, der seit letztem Jahr in die weltweiten Katastrophensprache eingegangen ist: "Der Zud". Das unübersetzbare Wort beschreibt eine Wetterlage, die von extremen Sommerdürren, in denen Gras kaum nachwächst, zu extremen Frösten im Winter führt. Achtmal in den vergangenen 60 Jahren kam der Zud über die Mongolen. Am schlimmsten traf er sie 1945, als acht Millionen Tiere (ein Drittel ihrer Herden) starben. Diesmal kam die Wetterkatastrophe in zwei aufeinander folgenden Jahren, weite Gebiete der Mongolei sind geschlossen von Schnee bedeckt. Die Tiere können sich durch den mehr als 40 Zentimeter tiefen, verharschten Schnee nicht zum Boden durchgraben. Im Winter 2000 waren 2,4 Millionen Tiere verhungert, heuer könnten es dreimal so viele werden. Nicht nur die Mongolei, die nun auf sofortige UN-Futtermittellieferungen angewiesen ist, ist betroffen. Ein Eispanzer hat sich über viele spärlich be-wohnte, schwer zugängliche Gebiete Asiens gelegt, schwer betroffen sind auch die zu China gehörenden Grasländer der Inneren Mongolei und die Wüsten und Berggebiete des nordwestlichen Xinjiang. Raubbau Hausgemachte Gründe verschärfen die Naturkrisen, die Forscher als Ausläufer globaler Wetteranomalien sehen. In China hat einst der sozialistische Raubbau an Wald und Boden zu Erosion, Versteppung und Verwüstung geführt. Zum Unglück für die Mongolei wurde eine überstürzte Privatisierung nach 1990, als sich nach Auflösung der Kooperativen 150.000 unerfahrene Mongolen als neue private Viehzüchter niederließen. Der Tierbestand wuchs von 25,9 Millionen Stück 1992 auf 32,9 Millionen 1998 an, zu viele Tiere für ein überweidetes Land. China steuert gegen den Teufelskreis von Naturkatastrophen und ökologischen Desastern mit Holzfällverboten und Aufforstung an, die Mongolei will mithilfe der UNO Strukturreformen beginnen, sobald sie die jetzige Krise überstanden hat. Viel Zeit bleibt nicht, neue Dürren, Sandstürme und Fluten drohen für den Sommer. Elf der derzeit 33 eingefrorenen Flüsse im chinesischen Xinjiang etwa werden im Frühsommer zu reißenden Hochwasserströmen, warnen Experten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.2.2001)