"Mama Lola - A Voodoo priestess in Brooklyn" trifft, aus welchen Gründen immer, erst mit einer beträchtlichen Verspätung im deutschen Sprachraum ein: Das 1991 in den USA erschienene ethnologische Opus der Religionswissenschafterin und Anthropologin Karen McCarthy Brown taucht in die unvertraut-fremdartige Welt der haitianischen Voodoo-Religion ein, die über das Medium der in Brooklyn lebenden Priesterin Alourdes Margaux alias Mama Lola erschlossen wird. 1978 hat Brown die damals 44-jährige Mama Lola auf einer wissenschaftlichen Erkundungstour in New York kennen gelernt. Aus der ersten Begegnung entwickelte sich eine zwölf Jahre währende freundschaftliche Beziehung, in deren Verlauf McCarthy Brown eine Fülle von Einzelheiten über das Schicksal und die Familiengeschichte der Immigrantin Mama Lola, das Leben der haitianischen Diaspora in New York und die Voodoo-Religion, die dieses Leben entscheidend prägt, mitgeteilt bekam. Der Austausch endete für Brown gleichwohl mit der Erfahrung, dass dem Verstehen über die Kulturgrenzen hinweg auch Grenzen gesetzt sind - vor allem wenn es sich um einen so rätselhaften Kulturkreis handelt wie den Haitis. Brown will ihr Buch nicht nur als Milieuschilderung verstanden wissen, sondern auch als Ehrenrettung des Voodoo, das eine der am meisten missverstandenen und am schlimmsten verleumdeten Religionen der Welt sei: In den USA hat dieses Mischwesen aus katholischen und animistischen Religionselementen jedenfalls ein ausgesprochen schlechtes Renommee, das nicht zuletzt durch schablonenhafte und sensationslüsterne Hollywood-Streifen (blutige Hahnenkämpfe, nadeldurchstochene Puppen etc.) verfestigt wurde. Unberechenbarer Baron Demgegenüber will McCarthy Brown ein historisches Verständnis für die Eigenarten des Voodoo vermitteln und seine Herkunft aus einer lange von der Außenwelt abgeschnittenen Sklavengesellschaft schildern, die das Leben als einen leidvollen Prozess begriff, der sich überhaupt nur mit der Unterstützung einer helfenden Geisterwelt bewältigen lässt. Je ein Kapitel in "Mama Lola" gilt einer Geisterfigur des Voodo wie etwa dem Schlangengott Dandala oder dem unberechenbaren, schalkhaften Gede alias Baron Samdi, der den Tod, die Sexualität, aber auch einen anarchistischen Humor, der gegen alle gesellschaftlichen Konventionen aufbegehrt, verkörpert: Diese Einführung in das haitianische Geisterpersonal ist mit einer weit ausladenden, einige Generationen zurückreichenden Schilderung der Familiengeschichte von Mama Lola verschränkt. Eher marginal bleibt die Darstellung der politischen Geschichte Haitis: Die Diktatoren-Dynastie Duvalier ("Papa Doc", "Baby Doc") wird ebenso nur am Rande erwähnt wie die berüchtigte Geheimpolizei der Tonton Makout, die Papa Doc aus dem Stand der Voodoo-Priester, dem er ursprünglich selbst angehörte, rekrutierte, um die politischen Bestrebungen der haitianischen Militärs im Zaum zu halten: Wie andere Religionen wurde also auch Voodoo als ein Machtinstrument eingesetzt. Browns Unterfangen ist über weite Strecken interessant, weil sie dem Leser eine eigentümliche Lebenswelt eröffnet, zu der man sonst wohl niemals Zugang fände. Leider sind die Mängel des Buches ebenso augenscheinlich: Brown hat versucht, die Geschichte von Mama Lola "in einem Chor von Stimmen" erklingen zu lassen, aber dieser Chor ist oft unharmonisch. Es ist der Autorin nicht gelungen, für die ausladenden und oft keiner recht erkennbaren Logik folgenden Erörterungen der Mama Lola eine adäquate Darstellungsform zu finden. An dem Buch stört vorab eine oft zügellose Weitschweifigkeit, die den Leser mit belanglosen Details überhäuft (dass Brown etwa mit einem "vierzehn Jahre alten Volvo" von Manhattan nach Brooklyn zu fahren pflegt, ist eine Information, auf die man getrost verzichten könnte). Unkritische Empathie Störender noch ist die streckenweise vollkommen unkritische Empathie, mit der sich Brown ihrem Forschungsgegenstand nähert. Man wird der Autorin zubilligen müssen, dass sie die Lebensführung von Mama Lola einfühlsam nachvollziehen musste, um den Kontakt aufbauen und halten zu können. Wenn sie dann aber von ihren eigenen Eheproblemen erzählt und sich mit einem Voodoo-Geist vermählen lässt, ist das entschieden zu viel des Guten. Browns Verdienst, eine verborgene Lebenswelt erschlossen zu haben, wird durch solche Peinlichkeiten und eine Auffassung von Feldforschung, in der Geschichten mehr angehäuft als systematisch erzählt und durchdrungen werden, beeinträchtigt. Das macht die Lektüre zu einem ziemlich gemischten Vergnügen. (DER STANDARD-ALBUM, Print-Ausgabe, 16./17. 2. 2001).