Lieber Alfred, vielen Dank für Deinen "offenen Brief" an mich, den ich im STANDARD vom 19. Februar über Internet entdeckte. Ich kann in der gebotenen Kürze eines solchen Briefes meine subjektive Einschätzung der österreichischen Zustände seit der Wende (bzw. dem Bruch) von 2000 nicht rekapitulieren. Eines möchte ich nur betonen: diese Krise der politischen Kultur Österreichs hat mich persönlich tief erschüttert, es war wie der Entzug eines Liebesobjekts, es war die Zerstörung des Österreich-Bildes, mit dem ich seit 25 Jahren gelebt hatte. Seit 1986 hatte es immer wieder bösartige Episoden gegeben, Eruptionen sozusagen, aber Ende gut, alles gut, Österreich schien mir endgültig als unproblematisch gefestigt. In dieser Überzeugung hatte ich 1996 nach zwei Jahren österreichisches Leben Wien verlassen. Anfang 2000 ging nach meinem Empfinden diese Welt unter, in die ich mich als französischer Germanist vor 25 Jahren einzuleben begonnen hatte. So erklären sich wahrscheinlich die tendenzielle Übertreibung und die tendenzielle Überschätzung der Ernsthaftigkeit der Lage, die Du kritisierst. Aber, lieber Alfred, steckt nicht auch ein kleines Stück rhetorische Gewalt in der impliziten Behauptung, die Du mir entgegenstellst, alles sei völlig normal und unauffällig in Wien und ringsherum? In einem Punkt kannst Du beruhigt sein : Mein Interesse und mein Engagement für die sog. Wiener Moderne hat keineswegs nachgelassen. Im Januar 2000 erschien mein Buch über "Die Tagebuchliteratur der Wiener Moderne" ("Journaux intimes viennois"), und ich schreibe im Augenblick an einem neuen Projekt zum Thema der "Rückkehr zur Antike in der Wiener Moderne". Was ich aber in diesem Zusammenhang wohl überschätzt hatte, das was die Kontinuität von der Wiener Moderne zum heutigen Österreich. Ja, das war meine große Fehleinschätzung: jene Wiener Moderne von Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein, von Robert Musil und Arnold Schönberg, ist von dem heutigen Österreich so weit entfernt wie die Welt des Nibelungenlieds. Ein Nachwort, fast ein Nachruf zum Österreichischen Kulturinstitut Paris: Dieses Haus ist genauso alt wie ich selbst, wenn es stimmt, dass es 1954 gegründet wurde. Ich habe es spätestens ab 1973 besucht, vielleicht schon früher, da kann ich es nicht mehr so genau sagen. Du wirst mir doch zugeben, dass ich etwas sentimental werden darf! Ein Vierteljahrhundert insgesamt guter Erinnerungen und Begegnungen mit der österreichischen Kultur wird abgewickelt, wird mir weggenommen. Aber dieses meine Trauergefühl, von vielen hierzulande geteilt, will ich nicht vereinnahmen lassen durch eine naive Kampagne für den Erhalt dieses Kulturinstituts. Der Schließungsbeschluss ist eine Sanktion gegen Frankreich und eine Boykottmaßnahme gegen Paris und gegen die Pariser. Im viel gepriesenen Mitteleuropa würde Österreich so was nicht wagen. Stell Dir vor, man würde das österreichische Kulturinstitut in Budapest schließen! In New York leistet sich dieselbe Nulldefizit-Regierung ein wunderschönes nagelneues Kulturinstitut. Meine Befürchtung ist in der Tat, dass die österreichisch-französischen Kulturbeziehungen nach dem Krisenjahr 2000 wie betäubt und gelähmt sind. Die Schließung des Kulturinstituts in Paris gibt davon ein beredtes Zeugnis. Um eine seeelische Krankheit in Griff zu bekommen, muss man den Kranken symptomatisieren lassen. Die haushohe Fehlleistung der Schließung des KI Paris ist ein Symptom, das - mir wenigstens - die Diagnose leichter macht. In der Hoffnung, so bald wie möglich die Genesungszeichen registrieren zu können und mit Dir diesen Gedankenaustausch fortsetzen zu können, verbleibe ich In herzlicher Verbundenheit Dein Jacques (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 2. 2001)