Der flexible Mensch und die Uniformität der Städte - Von Richard Sennett
Die Stadt war stets der Ort, an dem die Menschen sowohl Anonymität als auch Vielfalt
suchten. Sie bot die Freiheit der Begegnung, ermöglichte die Nähe des Unbekannten.
Aber sie war immer auch der soziale Ort des kollektiven Kämpfens und der Solidarität.
Das alles droht mit den neuen Formen der Produktion verloren zu gehen. Denn diese
stellen mit ihrer „flexiblen“ Organisation der Arbeit, die das Ende der Hierarchien
bedeutet, all das in Frage, was die traditionelle Anziehungskraft der Städte ausmachte.
Wo sich höhere Manager und Techniker heutzutage nomadisierend um die Welt bewegen
und die regionalen Wurzeln verkümmern lassen, obsiegt das Bedürfnis nach konsumierbaren
Einheiten über die Bereitschaft zu Engagement und Loyalität. Die ständige Ortsveränderung
unterdrückt die Neugier und die Freude am Fremden und labt sich an der beruhigenden
Stereotypie von Büroeinrichtungen und Ladenketten. So spiegelt sich derselbe Trend
zur kommerziellen Globalisierung auch in der weltweiten Standardisierung der urbanen
Architektur. Die Faszination des Fremden ist verbannt.
Städte können vernachlässigt und heruntergewirtschaftet, verroht, dreckig und verfallen
sein. Dennoch glauben viele Menschen, dass es sich lohnt, in der Stadt zu leben. Auch
die schlimmste ist ihnen noch gut genug. Warum? Weil die Städte, so vermute ich, ein
Potenzial besitzen, das uns erlaubt, uns als menschliche Wesen komplexer zu entfalten.
Die Stadt ist ein Ort, an dem man lernen kann, mit Fremden zu leben, an nicht vertrauten
Erfahrungen und Interessen Unbekannter teilzuhaben. Gleichartigkeit stumpft ab und
lässt den Geist verkümmern; Vielfalt regt an und erweitert den Horizont.
Der zweite Vorzug der städtischen Gesellschaft ergibt sich unmittelbar aus dem zuerst
geschilderten. Die Stadt ist geeignet, den Menschen ein reicheres, komplexeres Selbstgefühl
zu vermitteln. In der Stadt sind sie nicht nur Banker oder Straßenkehrer, Afrokariben
oder Angelsachsen, englisch oder spanisch sprechende Nachbarn, Bürgerliche oder Proletarier:
Sie können dies oder jenes oder alles auf einmal sein, ja sogar mehr als das. Ihre
Identität geht in keinem festgelegten Klassifikationsschema auf. Jeder kann wechselnde
Bilder von seiner eigenen Identität entwickeln, weiß er doch, dass sich die Frage,
wer er ist, immer nach den Leuten richtet, mit denen er verkehrt. Eben darin liegt
die Stärke der Fremdheit: Sie macht frei von willkürlichen Definitionen und Identifikationen.
Als die Schriftstellerin Willa Cather 1906 nach New York kam und sich in Greenwich
Village niederließ, schrieb sie, die in der amerikanischen Provinz stets von der Angst
geplagt war, als Lesbierin erkannt zu werden, an eine Freundin: „Hier, an diesem Ort
mit seinen unergründlichen Rätseln kann ich endlich atmen.“ In der Öffentlichkeit
mag sich der Städter unbeteiligt geben, gegenüber anderen auf der Straße cool und
gleichgültig auftreten; und dennoch wird er oder sie im privaten Bereich durch die
seltsamen Kontakte angesprochen, wird sich durch die Gegenwart der anderen in den
tiefsten Gewissheiten erschüttert fühlen.
Doch diese Vorzüge ergeben sich nicht zwangsläufig aus der Urbanität. Eines der großen
Probleme, die das städtische Leben mit sich bringt, lässt sich in folgende Fragen
fassen: Wie bringt man die komplexen Elemente, die in einer Stadt vorhanden sind,
tatsächlich zur Interaktion, so dass sich die Menschen eher als Weltbürger denn als
bloße Stadtbewohner fühlen? Und was muss man tun, damit die belebten, oft überfüllten
Straßen, in denen auch die Angst umgeht, zu Orten der Selbsterfahrung werden? Der
französische Philosoph Emmanuel Lévinas spricht von der „Nachbarschaft des Unbekannten“,
ein Ausdruck, der sehr treffend erfasst, was wir bei der Planung unserer Städte anstreben
sollten.
Ich bin überzeugt, dass eine große Umwälzung des Kapitalismus den Kontext der Stadtkultur
und ihrer Werte vollständig verändert hat, dass Stadtplaner und Architekten mit ganz
neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Der Kapitalismus hat nicht nur durch die
Globalisierung eine starke Veränderung erfahren, sondern auch durch eine neue Produktionsweise,
die uns heute erlaubt, flexibler, weniger rigide zu arbeiten.
Der deutsche Soziologe Max Weber hat im 19. Jahrhundert die Organisationsstruktur
moderner Betriebe mit der militärischer Verbände verglichen. Beide funktionierten
nach dem Prinzip einer Pyramide, mit dem Firmenboss oder dem General an der Spitze
und den Arbeitern oder den Soldaten an der Basis. Durch die Arbeitsteilung wurden
Überschneidungen minimiert, und jede Gruppe an der Basis bekam ihre spezifische Aufgabe
zugewiesen. So konnte der Betriebsleiter von der Spitze der Hierarchie aus die Abläufe
am Montageband oder im Kundenbüro bestimmen, genau wie der General weit von seinem
Befehlsstand entfernte Truppeneinheiten strategisch befehligen konnte. Und als die
Arbeitsteilung sich immer weiterentwickelte, stieg entsprechend auch der Bedarf an
Facharbeitern, während nur wenig mehr Chefs gebraucht wurden.
Im Bereich der Industrieproduktion fand Webers Pyramide ihre vollendete Form im so
genannten Fordismus. Dabei handelte es sich um ein bis ins kleinste Detail festgelegtes
Management der Arbeitskraft, das auch noch die Zeitphasen und einzelnen Handgriffe
erfasste und von einigen wenigen Experten an der Spitze verfügt werden konnte. Am
besten veranschaulicht dieses Modell die General-Motors-Autofabrik in Willow Run in
den USA: ein riesiges Gebäude mit einer Länge von 1,5 Kilometern und einer Breite
von 400 Metern, wo die Roheisenblöcke und die Glasscheiben am einen Ende hineingingen
und am anderen Ende die fertigen Autos herauskamen. Nur durch ein System striktester
Arbeitskontrolle konnte die Produktion in derartigen Dimensionen koordiniert werden.
Dieser industrielle Ablauf fand in der Welt der Schreibtischarbeiter in den 60er-Jahren
sein Gegenstück in den strengen Kontrollen, die Unternehmen wie IBM einführten.
Vor etwa dreißig Jahren begann in einigen Wirtschaftsbranchen allerdings der Aufstand
gegen die Webersche Pyramide. Einige Unternehmen versuchten, Organisationen „aufzulösen“,
ganze Ebenen der Bürokratie abzuschaffen (wobei die Bürokraten durch neue Informationstechnologien
ersetzt wurden) und die Praxis zu durchbrechen, die dem einzelnen Arbeiter bestimmte
Tätigkeiten fest zuschrieben. Stattdessen wurden Arbeitsteams gebildet, die jeweils
kurzfristig spezifische Aufgaben zu bewältigen hatten. Bei dieser neuen industriellen
Fertigungsstrategie konkurrierten mehrere Teams, um ein von oben gesetztes Ziel so
effektiv und schnell wie möglich zu erreichen. Hier erledigt nicht mehr jede einzelne
Person als Glied einer definierten Befehlskette sein eigenes Stück Arbeit, sondern
die Aufgaben überschneiden sich: Die verschiedenen Teams konkurrieren mit dem Ziel,
dieselbe Aufgabe am schnellsten und am besten zu bewältigen. Auf diese Weise kann
das Unternehmen auf eine veränderte Marktnachfrage rascher reagieren.
Ohne Bindung keine Brüderlichkeit
Die Apologeten dieser neuen Arbeitswelt behaupten, sie sei auch demokratischer als
der militärische Stil des alten Systems. Aber dem ist nicht so. Webers Pyramide wurde
vielmehr durch einen Kreis ersetzt, dessen Mittelpunkt nur einige wenige Manager besetzen.
Und die treffen die Entscheidungen, definieren die Aufgaben, beurteilen die Ergebnisse.
Die Revolution der Informationstechnologie gibt ihnen die Möglichkeit, sämtliche Arbeitsprozesse
innerhalb des Unternehmens viel unmittelbarer zu kontrollieren als im alten System,
wo die lange Befehlskette häufig dazu führte, dass die Anordnungen beim letzten Glied
in modifizierter Form ankamen. Den an der Peripherie des Kreises arbeitenden Teams
wird freie Hand gelassen, wie sie die im Zentrum beschlossenen Produktionsziele umsetzen.
Sie können also im Rahmen der Konkurrenz über die Mittel zur Lösung ihrer Aufgaben
frei befinden, bleiben aber in der Entscheidung, worin diese Aufgaben bestehen, ebenso
unfrei wie eh und je.
Die Bürokratie in Gestalt der Weber’schen Pyramide sah Belohnungen vor, wenn einer
seine Arbeit so gut wie möglich erledigte. Im kreisförmigen, aus der Mitte geführten
System geht die Belohnung dagegen an das Team, das gegen die anderen Teams gewinnt,
nach dem Prinzip des Alles oder nichts, von Wirtschaftswissenschaftler Robert Frank
auch the winner-takes-all organisation genannt [
Siehe Robert H. Frank und Philip J. Cook, „The Winner-Takes-All Society. Why the
Few at the Top Get So Much More Than the Rest of Us“, New York 1996
]. Die bloße Anstrengung, das Bemühen,
bringt nichts mehr ein. Laut Frank verschärft diese neue Formel die starke Ungleichheit
der Löhne und Vergünstigungen in den Unternehmen, die sich der Flexibilität verschrieben
haben.
Der flexible Arbeitsplatz wird mit der immer wiederkehrenden Formel „nicht langfristig“
gekennzeichnet. Die Stufen der Karriereleiter werden durch Jobs ersetzt, die in der
Erfüllung spezifischer und begrenzter Aufgaben bestehen. Ist die Aufgabe erledigt,
ist häufig auch der Job zu Ende. Im Hightech-Sektor von Silicon Valley beträgt die
durchschnittliche Laufzeit der Arbeitsverträge gegenwärtig etwa acht Monate. Wer solche
Jobs annimmt, bekommt laufend neue Arbeitskollegen – ganz im Sinne der modernen Managementtheorie,
nach deren Erkenntnissen die „Lebensdauer“ eines Teams ein Jahr nicht überschreiten
sollte.
Auf dem heutigen Arbeitsmarkt ist dies zwar noch nicht das dominierende Strukturmodell,
aber es ist durchaus schon eine Avantgarde des Wandels, eine Vorahnung dessen, wie
die künftigen Strukturen auszusehen haben: Niemand würde heute ein Unternehmen gründen,
das auf dem Prinzip dauerhafter Arbeitsplätze basiert.
Die flexible Organisation fördert den Sinn für Loyalität oder Brüderlichkeit so wenig,
wie sie der Demokratisierung dient. Es ist schwer, sich für ein Unternehmen zu engagieren,
das keinen definierbaren Charakter hat, schwer auch, sich loyal gegenüber einer unbeständigen
Institution zu verhalten, die einem selbst keine Loyalität entgegenbringt. Selbst
die Führungskräfte solcher Unternehmen finden allmählich heraus, dass bei fehlendem
Engagement die Produktivität sinkt und die Bereitschaft steigt, Geschäftsgeheimnisse
auszuplaudern.
Der mangelnde Sinn für Brüderlichkeit, der sich durch das „nicht langfristig“ erklärt,
hat noch subtilere Folgen. Die lösungsorientierte Teamarbeit setzt die Menschen ungeheuer
unter Druck, und in den Verliererteams sind gegenseitige Schuldzuweisungen in der
letzten Phase der Zusammenarbeit an der Tagesordnung. Auch hier gilt: Vertrauen der
informellen Art braucht Zeit, um sich zu entwickeln; man muss die Menschen erst einmal
kennenlernen. Und die Erfahrung, nur vorübergehend in einem Unternehmen zu sein, führt
dazu, dass man nur lockere Kontakte knüpft und sich nicht auf andere einlässt, weil
man ja bald wieder den Abgang macht.
Auf der praktischen Ebene ist genau dieser Mangel an gegenseitiger Loyalität einer
der Gründe, die es den Gewerkschaften so schwer machen, in den flexiblen Betrieben
oder Unternehmen, beispielsweise in Silicon Valley, die Arbeitnehmer zu organisieren.
Der Sinn für Brüderlichkeit als gemeinsames Schicksal, als dauerhafter Bestand gemeinsamer
Interessen, ist schwächer geworden. Gesellschaftlich bringen die Kurzzeitjobs ein
Paradox hervor: Die Menschen arbeiten intensiv, unter großem Druck, aber ihre Beziehungen
zu anderen bleiben seltsam oberflächlich. Dies ist keine Welt, in der es sinnvoll
wäre, sich wirklich auf andere einzulassen – jedenfalls nicht auf lange Sicht.
Meine These lautet nun, dass der flexible Kapitalismus auf die Städte exakt die gleichen
Wirkungen ausübt wie auf die Arbeitsplätze. Genau wie die flexible Produktion zu oberflächlicheren
und kurzlebigen Beziehungen am Arbeitsplatz führt, so erzeugt dieser Kapitalismus
auch in der Stadt einen Zustand, in dem oberflächliche und unverbindliche Beziehungen
vorherrschen. Diese lassen sich in drei Dimensionen festmachen.
Am augenscheinlichsten ist die physische Bindung an die Stadt. Flexible Arbeitskräfte
weisen eine ungewöhnlich hohe Mobilität auf. Zeitarbeit ist auf dem Arbeitsmarkt der
einzige Bereich, der ein rapides Wachstum zu verzeichnen hat. Aushilfskrankenschwestern
in den USA ziehen achtmal häufiger um als ihre festangestellten Kolleginnen. Für die
oberen Wirtschaftsetagen gilt: Führungskräfte haben ihren Wohnort früher zwar nicht
seltener gewechselt als heute, aber dieser Wechsel verlief anders. Sie blieben gewissermaßen
im alten Trott, an dasselbe Unternehmen gebunden, und dieses Unternehmen definierte
ihren „Platz“, ihr Lebensfeld, egal, in welcher Ecke der Welt sie sich gerade befanden.
Genau dieser Faden der Kontinuität wird durch die flexiblen Arbeitsformen abgerissen.
Forschungsarbeiten über die Entwicklung des urbanen Raums haben herausgefunden, dass
die städtische Lebensart für diese Elite mittlerweile wichtiger ist als ihre Jobs:
Bestimmte Viertel oder Nobelgegenden mit einem reichen Angebot an schicken Restaurants
und speziellen Dienstleistungen treten an die Stelle des Unternehmens und übernehmen
dessen Funktion als Anker.
Der zweite Ausdruck des neuen Kapitalismus ist die Standardisierung der städtischen
Umwelt. Vor ein paar Jahren habe ich den Chef eines großen New-Economy-Unternehmens
durch das Chanin Building in New York geführt, einen Art-déco-Palast mit großzügigen
Büros und wunderbaren öffentlichen Räumen. „Das wäre nichts für uns“, sagte mein Begleiter,
„die Leute könnten sich allzu sehr an ihre Büros gewöhnen, sie könnten glauben, dass
sie hierher gehören.“
Das flexible Büro ist nicht als ein Ort gedacht, an dem die Menschen Wurzeln schlagen
sollen. Die Büroarchitektur flexibler Firmen soll eine physische Umgebung garantieren,
die sich jederzeit umgestalten lässt – im Extremfall erscheint das „Büro“ als reines
Computerterminal. Die Neutralität der neuen Gebäude hat im Übrigen damit zu tun, dass
sie als Investmentobjekte zu einer globalen Währung geworden sind. Damit ein Geschäftsmann
in Manila problemlos zehntausend Quadratmeter Büroraum in London kauft oder verkauft,
braucht dieser Raum selbst die Uniformität und Transparenz des Geldes. So erklären
sich auch die Stilelemente der New-Economy-Gebäude, die „Skin-Architektur“, wie Ada
Louise Huxtable sie genannt hat: das Äußere mit Design aufgepeppt, das Innere immer
neutraler, in Standardausstattung, beliebig einzurichten.
Standardisierung und Gleichgültigkeit
Neben der „Skin-Architektur“ nimmt auch die Standardisierung des Konsumsektors immer
mehr überhand: ein weltweites Netz von Kettenläden, die in Manila, Mexico City oder
London in gleichartigen Räumen die gleichen Waren anbieten. Es fällt schwer, mit einem
bestimmten Geschäft von GAP oder Banana Republic warm zu werden; Standardisierung
macht die Menschen gleichgültig.
Auch die mangelnde institutionelle Loyalität am Arbeitsplatz – ein Problem, das auch
die Manager heute kritischer sehen, die einst blindwütige Verfechter der permanenten
Umstrukturierung waren – findet ihre urbane Entsprechung im Reich des öffentlichen
Konsums. Das persönliche Engagement, die Anhänglichkeit und Treue zu bestimmten Einkaufsplätzen
oder Stammlokalen ist unter den veränderten Rahmenbedingungen zerbrochen. Die Städte
hören auf, Fremdes, Unerwartetes, Erregendes zu bieten. Auch zur Entwicklung gemeinsamer
Geschichte kommt es in den neutralen öffentlichen Räumen immer seltener: Das kollektive
Gedächtnis schwindet. Der standardisierte Konsum zerstört lokale Bedeutungen in der
gleichen Weise, wie der neuartige Arbeitsplatz die gewachsene gemeinsame Erinnerung
unter den Arbeitern zersetzt.
Die dritte Auswirkung des neuen Kapitalismus ist für das Auge weniger sichtbar. Hochgradiger
Stress und flexible Arbeitsformen zerrütten das Familienleben. Die üblichen von der
Presse transportierten Bilder – vernachlässigte Kinder, Erwachsene im Stress, geografische
Entwurzelung – treffen nicht den eigentlichen Kern dieser Desorientierung. Wichtig
ist vielmehr, dass die Verhaltensregeln, die in der neuen Arbeitswelt herrschen, jede
Familie zerstören müssten, wenn man sie vom Büro mit nach Hause bringen würde: Leg
dich nicht fest, lass dich nicht ein, konzentrier dich aufs kurzfristige Kalkül! Wenn
Politiker öffentlich die „Werte der Familie“ beschwören, so kommt darin mehr zum Ausdruck
als lediglich eine rechte Grundeinstellung: Es ist eine Reaktion auf die oft dumpf,
aber heftig empfundene Gefährdung des Familienzusammenhalts im Zeitalter der New Economy.
Das von Christopher Lasch entworfene Bild der Familie als „Himmel in einer herzlosen
Welt“ schildert ein Bedürfnis, das um so dringender wird, je unvorhersehbarer und
zeitaufwendiger sich die Arbeit der Erwachsenen gestaltet [
Siehe Christopher Lash, „Das Zeitalter des Narzissmus“, Hamburg 1995
]. Der damit benannte Konflikt,
der für Angestellte mittleren Alters in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde,
besteht darin, dass die Erwachsenen, die sich ständig für den Zusammenhalt und die
Organisation der Familie abrackern müssen, aus dem öffentlichen Leben mehr und mehr
zurückziehen: Die Partizipation auf dieser Ebene erfordert häufig einfach zu viel
Zeit und Energie.
Damit komme ich zum letzten Punkt: Wie wirkt sich die Globalisierung auf die Städte
aus? Die neue Elite, die ihre Geschäfte global in Städten wie New York, London oder
Chicago betreibt, meidet den Bereich der Politik. Sie will in der Stadt operieren,
sich aber nicht in irgendeiner Form an der Regierung beteiligen. Sie stellt eine Macht
dar, ohne Verantwortung zu übernehmen.
Noch 1925 gab es etwa in Chicago zwischen politischer und ökonomischer Macht einen
untrennbaren Zusammenhang. Die Chefs der 80 Spitzenunternehmen der Stadt saßen in
den Verwaltungsräten von 142 Krankenhäusern, stellten 70 Prozent der College- und
Universitätsvorstände, und die Steuersummen von 18 nationalen Unternehmen machten
23 Prozent des städtischen Haushaltsbudgets aus. Dagegen finden wir heute in New York
nur wenige Figuren aus den Chefetagen international agierender Firmen in den Vorständen
der Bildungsinstitutionen, und keine einzige im Verwaltungsrat eines Krankenhauses.
Auch wissen wir mittlerweile gut Bescheid, wie freischwebend multinationale Konzerne
wie Rupert Murdochs „News Corp“ operieren, um sich Steuerforderungen, auf lokaler
oder nationaler Ebene, weitgehend zu entziehen.
Diese Entwicklung rührt daher, dass die globale Ökonomie nicht im eigentlichen Sinne
in der Stadt verwurzelt ist, das heißt mit der Stadt als Ganzes verbunden. Sie führt
vielmehr ein Inseldasein – buchstäblich auf der Insel Manhattan in New York, architektonisch
an Standorten wie Canary Wharf in London, die an geschlossene römische Siedlungen
erinnern. Wie John Mollenkopf [
Siehe John Hull Mollenkopf, „The Contested City“, Princeton 1983
] und Manuel Castells [
Siehe Manuel Castells, „The Rise of the Network Society“, Oxford (Blackwell) 2000
] gezeigt haben, verströmt sich
dieser global erwirtschaftete Reichtum kaum über die Grenzen der Enklave hinaus.
Die Enklavenpolitik der globalen Ökonomie erzeugt eine Art von Gleichgültigkeit gegenüber
der Stadt, die Marcel Proust in einem ganz anderen Kontext als Phänomen des „passiven
Liebhabers“ beschrieben hat. Angesichts der Drohung, die Stadt zu verlassen, irgendwo
anders in der Welt seine Zelte aufzuschlagen, bietet man dem globalen Unternehmen
enorme Steuerfreiheiten, um es zum Bleiben zu bewegen. Diese gewinnträchtige Verführungsstrategie
beruht darauf, dass die Unternehmen so tun, als sei ihnen ihr Standort letztlich egal.
Mit anderen Worten, die Globalisierung stellt sowohl in Bezug auf die Städte als auch
in Bezug auf die Nation den Begriff der Bürgerschaft in Frage. Die Städte haben keinen
Zugriff auf das Vermögen der globalen Firmen, und die Firmen selbst übernehmen kaum
Verantwortung für ihre Präsenz. Die Drohung des Wegzugs macht es ihnen möglich, Verantwortung
zu vermeiden. Umgekehrt gibt es keine politische Handhabe, um instabile, flexible
Institutionen zu zwingen, einen fairen Beitrag für die Privilegien zu zahlen, die
sie in der Stadt genießen.
Aus all diesen Gründen stehen die Städte vor drei neuen Problemen: dem Dilemma der
Bürgerschaft; dem Problem einer angenehmen städtischen Umgebung (insofern Unstetigkeit
und Standardisierung die Menschen gleichgültig gegenüber öffentlichen Plätzen werden
lassen); und der Schwierigkeit einer unmittelbaren, dauerhaften Bindung an die Stadt.
Die ortsungebundene Produktion von Gütern zeigt sich in den Städten in Gestalt global
agierender, mobiler Unternehmen und flexibler Arbeitsplätze – ein dynamischer urbaner
Kapitalismus, der mit seiner Routine alles Vorfindliche auszuradieren droht. Schon
jetzt prägt diese rastlose Ökonomie den Bereich der Politik, schafft Unverbindlichkeit
und Standardisierung in der physischen Umgebung, belagert die Privatsphäre mit einer
neuen Art von Arbeitsdruck.
All diese Probleme prägen die „bürgerliche Stadtgesellschaft“ unserer Zeit. Diese
bedeutet heute einen Zustand wechselseitiger Anpassung, die durch wechselseitige Abgrenzung
erreicht wird. Das ist nichts anderes als ein Zustand des sich gegenseitig in Ruhelassens,
die Ruhe gegenseitiger Gleichgültigkeit. Positiv gesehen, ist es einer der Gründe,
warum die moderne Stadt, die dehnbar ist wie ein Akkordeon, neue Wellen von Migranten
so leicht absorbieren kann: Die unterschiedlichen Nischen sind hermetisch gegeneinander
abgeschlossen. Negativ gesehen, bedeutet das Miteinanderauskommen durch Abgrenzung
nicht nur das Ende dessen, was das Zusammenleben einer Bürgerschaft ausmacht und eine
Verständigung über unterschiedliche Interessen voraussetzt, es bedeutet auch einen
Verlust schlichter menschlicher Neugierde auf andere Menschen.
Und doch erzeugt die Flexibilität des modernen Arbeitsplatzes ein Gefühl der Unvollständigkeit.
Die flexible Zeit ist nicht kumulativ, sondern seriell: Man macht ein Projekt und
dann ein anderes, das mit dem ersten nichts zu tun hat. Aber es entsteht kein Bedürfnis,
dass man sich, da im eigenen Leben etwas fehlt, etwas außer sich sucht, wie die „Nachbarschaft
des Unbekannten“ (Emmanuel Lévinas).
Daraus ergeben sich einige Ansätze für die Kunst, unsere heutigen Städte besser zu
gestalten. Wir brauchen ein Miteinander verschiedener Aktivitäten in demselben Raum,
wie es früher ein Miteinander von Familienleben und Arbeitsleben gab. Die Unvollständigkeit
der kapitalistischen Zeit wirft uns auf dieselben Probleme zurück wie in den ersten
Anfängen der städtisch-industriellen Entwicklung. In einer Stadt, die das Wohnhaus,
domus, brutal aus seinen Zusammenhängen riss und die räumliche Verbindung zerstörte,
die vor dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus zwischen Familie, Arbeit, feierlichen
und eher informellen öffentlichen Plätzen bestanden hatte. Es tut dringend Not, die
Kollektivität des Raums wieder herzustellen, um die serielle Zeit der modernen Arbeit
zu bekämpfen.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25. 2. 2001)