"So gegen 10.00 Uhr gehe ich online", beschreibt eine Teilnehmerin in einem Internet-Diskussionsforum ihre Sucht. "Ich surfe bis etwa 16.00 Uhr, dann kommt mein Mann nach Hause. Gegen 18.00 Uhr gehe ich wieder ins Internet, meist bis 1.00 Uhr". So wie der Hausfrau aus dem US-Bundesstaat West Virginia geht es vielen Internet-Abhängigen. Psychologen nehmen sich des Themas in jüngster Zeit verstärkt an. Jede Woche Hilferufe von Internet-Süchtigen "Wer in meine Praxis kommt, will sein Leben, seine Ehe oder seinen Arbeitsplatz retten", berichtet Maressa Orzack. Die Psychiaterin vom McLean-Krankenhaus in Harvard im Bundesstaat Massachusetts hat pro Woche etwa zehn Hilferufe von Internet-Süchtigen. Doch dies ist wohl nur die Spitze eines Eisbergs: "Jüngsten Untersuchungen zufolge sind rund sechs Prozent der Internet-Nutzer in den USA abhängig, also elf Millionen Menschen", berichtet die Psychologin Kimberly Young. "Uns könnte eine Epidemie bevorstehen". Totalentzug kaum möglich Die Behandlung der Internet-Sucht erweist sich dabei allerdings als äußerst problematisch. Ein Totalentzug, wie etwa bei einer Drogensucht, ist wegen der wachsenden Bedeutung von Online-Diensten im Wirtschafts- und Alltagsleben kaum möglich. Das Surfen als Hauptaktivität ist für den britischen Psychlogen Mark Griffiths eines der typischen Suchtmerkmale. Zudem leiden Dauersurfer wie andere Abhängige oft unter Stimmungsschwankungen und entwickelten bei Entzug Mangelerscheinungen. "Das Internet macht mich noch verrückt", klagt etwa eine 24-jährige Studentin in einem Diskussionsforum. "Es hat mich schon meinen Job gekostet". Der Surfer wird zu schnell in die Gemeinschaft aufgenommen "Im Internet scheint alles so einfach, befriedigend und schnell", erklärt sich Maressa Orzack die Online-Exzesse. Der Surfer brauche nur seine guten Seiten zu zeigen und werde anonym und problemlos in eine Gemeinschaft aufgenommen. Dieses Gefühl der Erfüllung könne zur Abhängigkeit führen. Tatsächlich sind viele Internet-Süchtige ständige Teilnehmer von interaktiven Spielen oder Diskussionsforen. Aber auch der "Cybersex", die Befriedigung sexueller Bedürfnisse über den Bildschirm, treibt den Experten zufolge viele Menschen in die Abhängigkeit. Billige Telefontarife sind mitschuld Begünstigt wird diese Tendenz durch billige Tarife, die es erschwinglich machen, 24 Stunden am Tag online zu bleiben. Auch am Arbeitsplatz wird die Internet-Sucht immer öfter zu einem Problem. Kimberly Young hat schon Aufklärungs-Seminare im Auftrag von Firmen wie dem Chip- und Handyhersteller Motorola organisiert, und auch verschiedene Regierungsbehörden baten die Sucht-Expertin um Hilfe. 50 Minuten Hilfe um 89 Dollar Über das Gefahrenpotenzial des Internets sind sich die Psychologen und Ärzte einig, bei den Behandlungsmethoden gehen die Meinungen allerdings auseinander. So hat Kimberly Young in Bradford im US-Bundesstaat Pennsylvania den Online-Beratungsdienst netaddiction.com gegründet. Der Preis einer 50 Minuten Beratung in einem Diskussionsforum liegt bei 89 Dollar (98 Euro/1.350 S). Internetsüchtige im Internet behandeln? Für die Psychiaterin Maressa Orzack ist das die falsche Methode. "Da könnte ich ja auch einen Alkoholkranken zur Behandlung in eine Bar einladen", kritisiert sie. Sie setzt darauf, im direkten Kontakt mit dem Betroffenen einen Behandlungsplan auszuarbeiten. Dabei ist sie sich bewusst, dass die Internet-Abstinenz in einer computerbeherrschten Welt keine Lösung sein kann. "Wir wollen den Süchtigen ermöglichen, ihre Abhängigkeit zu kontrollieren", erklärt sie ihr Konzept. Ist Intersucht eine Krankheit? Andere Experten zweifeln die Existenz der Internet-Sucht als Krankheitsbild überhaupt an. "Kann das stundenlange Surfen als psychisches Problem wie die Schizophrenie oder eine Depression angesehen werden? Die Antwort lautet Nein", urteilt der Psychiater John M. Grohol. Auch die Fachzeitschrift "CyberPsychology and Behavior" (CyberPsychologie und Verhalten) hat Zweifel in den Reihen der Psychiater ausgemacht: "Viele denken, dass es sich eher um eine Variante anderer Krankheiten handelt, wie der Spiel- oder der Kaufsucht", schreibt das Blatt. Dass die intensive Internet-Nutzung nicht zwangsläufig krank machen muss, beweist der Beitrag einer jungen Dauersurferin in einem Diskussionsforum: "Ich will etwas lernen, kann es mir aber nicht leisten, zur Universität zu gehen. Deswegen nutze ich das Internet als Alternative". (APA)