Wien - Die Partnerschaft zwischen der EU und der Türkei fällt beiden Seiten schwer. Ist man in Brüssel mit dem geringen Reformeifer der türkischen Führung unzufrieden, so widerstreben Ankara die umfangreichen Forderungen der EU. Die Frage, ob die Türkei tatsächlich eines Tages Mitglied in der Europäischen Union sein kann und soll, wird nicht nur vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt verneint. Tatsächlich erbringt das Land am Bosporus bisher in vielen Bereichen nicht die Voraussetzungen für eine Zugehörigkeit zur EU. Seit 1960 erlebte die Türkei drei Militärputsche. Immer noch ist die Verfassung von 1982 in Kraft, die nach dem bisher letzten Putsch 1980 erlassen wurde. Sie räumt dem Obrigkeitsstaat Vorrang vor den individuellen Bürgerrechten ein und schränkt die Meinungs- und Organisationsfreiheit mit Verweis auf die "Interessen der türkischen Nation" vielfach ein. Weiter in Kraft sind der Artikel 8 des Antiterrorgesetzes und der Artikel 312 des Strafgesetzbuchs, mit denen Zehntausende Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden sind. Heute noch hat die Türkei rund 11.000 politische Gefangene, von denen nur rund zehn Prozent wegen einer konkreten Tat verurteilt worden sind. Alle übrigen sind "Gesinnungshäftlinge". In den Haftanstalten und bei der Polizei sind systematische Folter und Misshandlungen alltägliche Praxis, wie eine Untersuchung des Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments im Vorjahr feststellte. Die mutige Vorsitzende des Gremiums, Sema Piskinsüt, wurde alsbald durch einen Abgeordneten der ultrarechten Partei der Nationalen Bewegung (MHP) abgelöst. Politisches System instabil Das politische System ist instabil. In 76 Jahren hatte die Türkei 57 Regierungen. Von den 550 Abgeordneten waren rund 200 schon einmal Kabinettsmitglieder. In keinem Land sind so viele Parteien verboten wie in der Türkei. Zuletzt traf es 1997 die islamistische Wohlfahrtspartei von Ex-Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der zusätzlich mit einem fünfjährigen Verbot der politischen Tätigkeit belegt wurde. Gegen die als Nachfolger gegründete Tugendpartei ist heute wieder ein Verbotsverfahren in Gang. Seit der Wahl im April 1999 wird die Türkei von einer Koalition aus Demokratischer Linkspartei von Ministerpräsident Bülent Ecevit, der MHP unter Vizepremier Devlet Bahceli und der Mutterlandspartei von Vizepremier Mesut Yilmaz regiert. Als Hoffnungsträger für die Demokratisierung gilt Präsident Ahmet Necdet Sezer, ein Verfassungsrechtler. Er ist der zehnte Präsident der Türkei und der erste, der weder Berufspolitiker noch Militär ist. Oberstes Gremium ist aber der aus fünf Generälen, den fünf wichtigsten Kabinettsmitgliedern sowie dem Staatspräsidenten gebildete Nationale Sicherheitsrat, der auf dem Papier zwar nur "konsultative" Aufgaben hat, in der Realität aber die Politik bestimmt. Die türkische Wirtschaft verzeichnete 1999 ein Minus gegenüber dem Vorjahr um rund fünf Prozent. Die Inflation betrug 64,9 Prozent (1998: 84,6 Prozent). Das Handelsbilanz erreichte ein Rekorddefizit von 13,3 Milliarden Euro (183 Mrd. S). Die Arbeitslosigkeit betrug offiziell 7,6 Prozent, inoffiziell aber mehr als 20 Prozent. Auf 1.000 Einwohner kamen 63,3 Autos, 280,6 Telephonanschlüsse und 6,8 Internet-Zugänge. Starkes gesellschaftliches Gefälle Die Türkei ist auch durch ein starkes gesellschaftliches Gefälle charakterisiert. 20 Prozent der fast 65 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung verfügen über 57,4 Prozent des Volkseinkommens, die unteren 20 Prozent haben gerade 3,4 Prozent. Hinzu kommen enorme geographische Differenzen: Die knapp 18 Millionen Menschen der Marmara-Region haben ein durchschnittliches Jahreseinkommen von umgerechnet 14.000 Dollar (15.436 Euro/212.397 S), in Ostanatolien beträgt der Schnitt 800 Dollar und in Südostanatolien 600 Dollar im Jahr. Ungelöst ist die Kurden-Problematik. Der bewaffnete Kampf zwischen der Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei PKK forderte in den vergangenen 15 Jahren nach unterschiedlichen Angaben zwischen 35.000 und 50.000 Menschenleben. Seit der Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan hat seine Partei den bewaffneten Kampf aufgegeben. Öcalan wurde im Juni 1999 zum Tode wegen Hochverrats verurteilt. Seine Hinrichtung ist derzeit ausgesetzt. Die sogar von der Armee nicht mehr rundweg abgelehnte Abschaffung der Todesstrafe scheiterte bisher daran, dass MHP-Chef Bahceli zuerst Öcalan hingerichtet wissen will. Der Tod des PKK-Chefs war das zentrale Wahlversprechen der Ultranationalisten. Heute sind sie in allen Umfragen die stärkste Partei. Der Weg von Ankara nach Brüssel ist tatsächlich sehr weit. (APA)