Der große, opiumtrunkene Edgar Allan Poe unterschied einmal grob zwischen zwei Arten der spielerischen Intelligenz. Die eine, über die etwa ein Schachgroßmeister im Erfolgsfall zwingend gebieten muss, setze auf die logische Kombination von Abstrakta. Die andere, nicht weniger wichtige aber verbinde spielerisches Kalkül mit dem unbestechlichen Blick auf die konkreten Umstände: Steht meinem Pokerpartner im Augenblick des Blattaufdeckens Schweiß auf der Stirn? Hat ihn gerade seine Frau verlassen? Der Bregenzerwälder Anton Sutterlüty (34), der in der vorgestrigen Ausgabe der ORF-Millionenshow als erster heimischer Ratefuchs die Frageleiter bis zur letzten Sprosse erklomm, meisterte nicht nur nacheinander die ihm aufgetischten Fragen und sackte die finalen zehn Millionen Schilling triumphierend ein. Er trotzte auch mit zäher alemannischer Beharrlichkeit den notorischen Störaktionen Barbara Stöckls. Die hetzt ihre Kandidaten mit schöner Regelmäßigkeit in den Abgrund, indem sie sie taktisch missleitet ("Aber Sie haben doch noch einen Joker?"); sie vorzeitig ins Bockshorn jagt ("300.000 Schilling sind viel Geld!"); die Armen mit der Insistenz einer Gluckhenne am sicher Gewussten irremacht ("A? Aber es könnte genauso gut auch B sein!"). Nein, der schlaksige Herr Sutterlüty, der in seiner knappen Kapuzen-Designerjacke melancholisch steckte wie in einer viel zu engen Gemüseschote, arbeitete sich nach zähem Beginn und unter eskalativem Joker-Einsatz wie ein Nachtwandler sicher in die unerreichbar geglaubten Millionenregionen hoch. Sutterlüty, ein in Wien arbeitender Kunstvermittler, der gerne als Fußballtorwart spielt, erwies sich als gelehriger Poe-Schüler. Pfiff darauf, dass er nicht wusste, welcher "Hektiker" Toni Polster imitiert. Wo Ludwig van Beethoven das Licht der Welt erblickte. Welcher US-Präsident 1975 über die Salzburger Gangway purzelte. Er gab fast übellaunig zu verstehen, dass er gerne "spiele" - also "zocke". Knetete in den dünnluftigen Höhen ein glücksbringendes Steinchen, das er am Spielplatz seines Sohnes Retho Nielson (2) gefunden hatte. Entwickelte seine Einsichten ganz natürlich. Und fand traumsicher jene Balance, welche die Geld-Abzock-Shows neuerdings zu wahren TV-Abräumern macht. Kein nass geduschter Busen im Container wiegt die eigentümliche Quiz-Mischung aus Halbbildung und ganzer Courage auf. Der sympathisch verkniffene Herr Sutterlüty wird das Geld zum Urlauben nützen - mit Lebensgefährtin und Kindern, denn die Freundin hat eine achtjährige Tochter in die Beziehung mitgebracht. Er will sich "weiterbilden". Die Poe-Lektion, dass der Sinn für die Symmetrie der Umstände das sichere Wissen ersetze, hat er schon gelernt. (Ronald Pohl - DER STANDARD, Print-Ausgabe,21. 2. 2001)