Hamburg - Die russische Avantgarde der Jahre 1910 bis 1934 ist Thema einer großen Retrospektive in Hamburg, wo von 23. Februar bis 10. Juni im Museum für Kunst und Gewerbe unter dem Ausstellungstitel "Mit voller Kraft" rund 500 Werke aus den bedeutendsten Sammlungen Russlands und aus westeuropäischen Sammlungen zu sehen sind. Malerei, Plastik, Fotografie, Design, Plakate, Mode, Architektur, Bühnenbildentwürfe und Keramik spiegeln das Schaffen russischer Künstler in sechs thematisch gegliederten Räumen wider. Über Gattungsgrenzen hinweg verdeutlicht die breit angelegte Schau Tendenzen und ermöglicht einen Vergleich zwischen Stilrichtungen und Künstlerpersönlichkeiten dieser von politischen und sozialen Umbrüchen geprägten Zeit. Die äußerst aufwändig inszenierte Schau dokumentiert die Zeit zwischen der Moskauer Ausstellung "Karo-Bube" (1910), dem programmatischen Start der frühen russischen Avantgarde-Bewegung, und dem Ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller (1934), mit dem der staatlich verordnete Sozialistische Realismus begann. Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert begann in Moskau und St. Petersburg eine künstlerische Entwicklung, die mit den Ereignissen der Oktoberrevolution alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Alltags erfasste. Künstler wie Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa oder Ljubow Popowa erhielten unter dem ersten Volkskommissariat für Bildung und Kultur die Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Im März 1915 wurde in Petrograd die Erste Futuristische Ausstellung "Tramway W" eröffnet. Diese Ausstellung prägte mit Werken von Kasimir Malewitsch, Iwan Puni und Ljubow Popowa die Begriffe Futurismus und Kubofuturismus. Zwei legendäre Ausstellungen der russischen Avantgarde stehen exemplarisch für den Suprematismus und den Konstruktivismus und damit für die beiden wichtigsten Strömungen künstlerischer Abstraktion in dieser Zeit. Im Dezember 1915 wurde in Petrograd die Ausstellung "0,10" eröffnet. Mit der Moskauer Ausstellung "5 x 5 = 25" im September 1921 fand der Konstruktivismus einen ersten Höhepunkt. Als 1918 Lenins Plan für monumentale Propaganda ratifiziert wurde, übernahmen Künstler vielfältige Arbeiten im Sinne der Volkserziehung: Sie verzierten Porzellangeschirr mit Hammer und Sichel oder dem roten Stern der Revolution und gestalteten städtische Plätze. Eine zentrale Ausdrucksform wurde das politische Plakat, Bildhauer verherrlichten in Bronzen mit romantischem Pathos den Arbeiter. Kunst sollte Teil des allgemeinen Lebens werden. Die Künstler gestalteten Stoffmuster, Keramik, Reklame, Zeitschriften, Produktverpackungen, Filmplakate und Möbel, entwarfen Gebrauchsgegenstände für die industrielle Massenproduktion. Auch in der Architektur setzte eine radikale Erneuerung ein, Fotografie und Fotomontage wurden wichtig bei der Plakatgestaltung. Mit der Auflösung der eigenständigen Künstlerverbände 1932 und dem Ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller 1934, auf dem der Sozialistische Realismus von parteioffizieller Seite zur verbindlichen Kunstform erklärt wurde, endete der schöpferische Reichtum der russischen Avantgarde. (APA/dpa)