Literatur
Das Gesetz soll sich vor uns fürchten
Tschechiens unbequemer Zeitgenosse: Ludvík Vaculík las in Wien
Was Ludvík Vaculík gegenüber anderen tschechischen Autoren der 68er-Generation kennzeichnet, ist sein anhaltender Nonkonformismus. Auch mit dem Tschechien nach 1989 hat sich der 74-jährige Intellektuelle nicht so identifiziert, dass es vor seiner Kritik sicher ist. Mit Ludvík Vaculík sprach Michael Cerha
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Wien - Die Lehre seines Lebens ist ein Gebot der zivilen Wachsamkeit: "Das Gesetz soll sich vor uns fürchten, nicht wir uns vor ihm!" Was so rebellisch klingt, ist nur die konsequente Wahrnehmung der ethischen Pflicht, die dem denkenden Bürger obliegt. Das meiste, was nicht hätte geschehen dürfen, geschah doch "in Übereinstimmung mit irgendwelchen Gesetzen. Und immer rechtfertigt man sich nachher damit, dass es damals so üblich gewesen sei."
Eine politische Funktion hat Vaculík auch in der demokratischen Tschechischen Republik nach 1989 nicht übernommen. Keine offizielle, um genau zu sein. Wohl aber die politische Funktion des denkenden, verantwortungsbewussten, handelnden Bürgers. So forderte er 1995 die Untersuchung der Verbrechen, die zwischen 1945 und 1947 auf tschechischem Boden "von Einzelnen oder von Gruppen an Deutschen begangen wurden".
So schloss er sich der Aktion Impuls 99 an, der die Demokratisierung in Tschechien zu schleppend vorangeht. Und so bekämpft er auch die Ausbreitung der Anonymisierung in Europa: Der verblüfften Öffentlichkeit stellte er vor noch nicht langer Zeit einen eigens entwickelten Stempel zum Gebrauch für Post aus Deutschland vor - wegen fehlender Angabe des Aufgabeortes lautet der Stempeltext: "Zurück an das Briefzentrum!"
STANDARD: Auf Einladung der Österreichischen Geselllschaft für Literatur haben Sie am Montagabend in Wien aus Ihrem neuen Roman Reise zum Altvater gelesen. Wann erscheint er?
Vaculík
: Weiß ich nicht. Ich habe von mir aus noch nie ein Buch einem Verlag angeboten. Ich warte immer, bis ein Verlag kommt. Wenn keiner kommt, macht es auch nichts. Übrigens ist das Buch nur zum Teil neu. Ich habe 1966 daran zu schreiben begonnen. Jetzt, nach 32 Jahren, habe ich mich entschlossen, das Manuskript dort weiterzuschreiben, wo ich damals aufgehört habe.
STANDARD: Wie Ihre bekanntesten Romane, Das Beil und Die Meerschweinchen, und vor allem wie die Tagträume von 1979 - eine Art politischer und privater Erlebnisbericht über die Chartisten - beruht Ihr neues Buch auf Realien. Sie schildern in dem Roman eine Reise durch Tschechien, man könnte auch sagen, durch die tschechische Geschichte.
Vaculík
: Das Buch geht auf eine Expedition zurück, die ich 1966 mit einem Freund, teils im Sattel und teils im Pferdewagen, zum legendenumwobenen tschechischen Berg Altvater unternommen habe. Auch die Geschichte rückt ins unmittelbare Blickfeld, wenn man sich, die Karte auf dem Pferdehintern ausgebreitet, eine Landschaft in Ruhe ansieht. Aber ich denke, es kann niemanden anderen als einen Tschechen interessieren.
STANDARD: Sind nicht die konkreten historischen Ereignisse eine Sache und das Typische, die Struktur des historischen Ablaufs, eine andere?
Vaculík
: Literatur schreibt man für das eigene Volk. Eine Literatur, die mit ihrer Übersetzung ins Französische oder Englische rechnet, kommt mir falsch vor.
STANDARD: Schreiben Sie für das eigene Volk, um es zu verändern?
Vaculík
: Einen direkten Einfluss der Literatur auf die Gesellschaft gibt es nicht. Der Großteil dessen, was wir uns vor 1989 unter der Hand an Büchern zukommen ließen, hat seine Bedeutung verloren. Wenn ich heute politisch schreibe, wie in meinen Zeitungskolumnen, geschieht das als Autotherapie. Das freie Wort hat keine Kraft mehr, aber trotzdem einen Sinn: Wir werden dadurch psychisch gesund oder fast gesund. Die Literatur durchdringt das gesellschaftliche Bewusstsein nur allmählich.
STANDARD: Schreiben Sie noch gerne?
Vaculík
: Sofern ich für mich schreibe. Aber ich sage sogar, ich bin kein echter Schriftsteller, weil ich nur unter Zwang schreiben kann. Der echte Schriftsteller schreibt gern. Er zwingt die Wirklichkeit, sich in ein Buch zu verwandeln. Mich dagegen zwingt die Wirklichkeit, über sie zu schreiben.
STANDARD: Um das Schweigen darüber zu durchbrechen? Wie in der Frage der tschechischen Vergangenheit?
Vaculík
: Das habe ich in meinen Kolumnen getan und 1995 mit der Anzeige beim Hauptstaatsanwalt. Wir wollten, dass darüber diskutiert wird. Dass erforscht wird, was da geschehen ist und wer es war. Es hat mich immer gewundert, dass Österreich nicht verlangt hat, dass die Leichen des so genannten Todesmarschs exhumiert werden. Wir sind ja auch mit den Verbrechen der kommunistischen Zeit noch nicht fertig. Die Jüngeren sollten diese Aufgabe angehen.
STANDARD: Die Jüngeren müssen auch um ein parteiunabhängiges Fernsehen kämpfen.
Vaculík
: Ich denke, dass dieser Kampf gut war. Das Gewissen steht über dem Gesetz. Zum ersten Mal seit zehn Jahren versammelte sich am Wenzelsplatz wieder eine so große Menge, um zu etwas Nein zu sagen.
STANDARD: An der österreichisch-tschechischen Grenze versammeln sich auch viele Leute, um zum Atomkraftwerk Temelín Nein zu sagen.
Vaculík
: Ich habe zur Atomkraft keine Meinung. Ich habe in dieser Sache kein Argument. Eine Frage allerdings schon: Es gibt auch in Tschechien zahlreiche Kritiker der Atomkraftwerke. Ihre Demonstrationen sind bloß verboten worden. Warum hat sich Österreich nicht damals hinter sie gestellt?
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22. 2. 2001)